SH: Vorgetäuschte Todesfälle beschäftigen immer wieder die Gerichte

„Filmreif“ nannten Polizei und Staatsanwaltschaft den versuchten Millionenbetrug, für den ein 53-jähriger Skipper im Oktober 2019 seinen eigenen Tod auf der Ostsee inszeniert haben soll. Tatsächlich liefert die Filmgeschichte zahlreiche Vorbilder für ähnliche Täuschungsmanöver – von Klassikern wie „Der Dritte Mann“ (1949) und Hitchcocks „Vertigo“ (1958) bis zu modernen TV- und Streaming-Serien. „Watt-Mutter“ räumte Konten leer: Im wahren Leben sind die Fälle rarer gesät. Doch zwei Beispiele aus Schleswig-Holstein zeigen verblüffende Parallelen. Kurz nachdem der jetzt wegen Betrugs angeklagte Kieler mit seinem Motorboot auf der Ostsee verschwand, wurde eine Mutter (41) aus Dithmarschen als vermisst gemeldet: Mit ihrem Sohn (8) soll sie an der Elbe vor Brunsbüttel ins Watt gegangen sein. Die „Watt-Mutter“ machte bundesweit Schlagzeilen, als der Verdacht einer Inszenierung aufkam: Die angeblich lebensmüde Frau hätte am nächsten Tag eine Haftstrafe wegen Betrugs antreten müssen, meldete die Polizei. Gegen einen Suizid sprach, dass sie gerade erst ihre Konten abgeräumt und ihr Auto verkauft hatte. Sie habe sich wohl nach Spanien abgesetzt, hieß es. „Milliarden-Mike“ wurde wiedergeboren: Aus Lübeck kommt „einer der bekanntesten Kriminellen Deutschlands“ (Wikipedia), der auf der Flucht vor der Polizei seinen Tod bei einem Verkehrsunfall vorführte – mit anschließender Wiedergeburt. Der Serienbetrüger „Milliarden-Mike“, der seine kriminelle Karriere in den 70er Jahren im Rotlichtmilieu der Hansestadt startete, wurde 2010 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Zuvor hatte der ehemalige Zuhälter und Hobby-Boxer einen solventen Geschäftsmann mit der Aussicht auf einen Diamanten-Schatz geködert. Um den Strafverfolgern, darunter dem damaligen Lübecker Staatsanwalt Harald Pohl, zu entgehen, inszenierte der Mittsechziger sein eigenes Ableben. Als das geprellte Opfer ihn dennoch aufspürte, behauptete „Milliarden-Mike“, sein eigener Zwillingsbruder zu sein. Auch dies zunächst mit Erfolg: Um doch noch an die ersehnten Diamanten zu kommen, soll der Geschädigte sogar weitere Mittel locker gemacht haben. Tod in Ostsee: Versicherung sollte zahlen: Zurück zum aktuellen Kieler Fall: Beim gescheiterten Coup des angeklagten Skippers sollten 4,1-Millionen Euro an die „Hinterbliebenen“ fließen, so der Vorwurf. Nutznießer von 14 Unfall- und Lebensversicherungen wären seine Ehefrau (53) und seine Mutter (87) gewesen. Laut Verschollenheitsgesetz können Vermisste auf See nicht erst nach zehn Jahren, sondern bereits nach sechs Monaten für tot erklärt werden. Doch in diesem Fall sollen sich die Angehörigen vergeblich um eine amtliche Bestätigung des Todes bemüht haben. Sie hatten keinen Anspruch auf Auszahlung der Versicherungsgelder. Lebensgefährliche Unfälle im und auf dem Wasser sind nicht ungewöhnlich. Laut DLRG ertranken in jenem Jahr mindestens 417 Menschen in Deutschland, davon 19 in Schleswig-Holstein. Vier Fünftel der Opfer waren männlich, 40 Prozent im Alter des Angeklagten oder älter. Doch von Verschollenen ist in der Statistik nicht die Rede. 57 Fälle von Seenot in 2019: 57 Berichte über zumeist erfolgreiche Rettungseinsätze auf Nord- und Ostsee veröffentlichten die Deutschen Seenotretter (DGzRS) im Jahr 2019, in dem auch der Kieler Skipper „verunglückte“. In den Dramen um gekenterte Yachten, gesunkene Jollen, vermisste Skipper und verunglückte Schwimmer geht es oft um Leben und Tod. Fand der Angeklagte hier die Anleitung für das Drehbuch seines Untergangs? Nur zwei Monate vor seinem Verschwinden war ein älterer Skipper aus Kiel vermisst worden. Die Segelyacht des 69-Jährigen wurde am 10. August 2019 in der Ostsee vor der dänischen Insel Langeland menschenleer und mit gerissenen Segeln aufgefunden, meldete die DGzRS. Man habe die Suche nach dem Verunglückten leider ergebnislos eingestellt, hieß es. Drei Tage später wurde die Leiche des Skippers an einem Strand geborgen. Seine Überlebenschancen seien bei hohem Wellengang, starkem Wind und Wassertemperaturen um 16 Grad sehr gering gewesen. Ex-Bundespräsident Gauck gerettet: Über ein Happy End freuten sich die Seenotretter dagegen Ende Juli, als sie Ex-Bundespräsident Joachim Gauck (80) „unversehrt und wohlauf“ aus dem Saaler Bodden bergen konnten. Sein Segelboot war im flachen Wasser des Ostsee-Meeresarms gekentert. Der Ex-Schirmherr der Seenotretter konnte sich „am eigenen Leib und unmittelbar von ihrer Einsatzbereitschaft überzeugen“, hieß es. Von der erfolgreichen Suche nach Vermissten auf See ist in DGzRS-Meldungen öfter mal die Rede. Ein dauerhaft verschollener Bootsführer, Schwimmer oder Surfer taucht in den Berichten seit 2015 jedoch nicht auf. Auch nicht der angeklagte Kieler Skipper, der sich derzeit vor dem Kieler Landgericht verantworten muss. Gingen die Behörden von Anfang an von einem fingierten Unglück aus? Diese Frage könnte bei der Fortsetzung des Prozesses am 5. Januar ein Sachverständiger für Schiffstechnik beantworten. Nach Aktenlage stellte der Gutachter am Motorboot des Angeklagten mindestens fünf Manipulationen fest. Von Thomas Geyer