SH: Werden Kinder durch Homeschooling abgehängt?

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) warnte angesichts geschlossener Schulen und Kitas: „Es entsteht ein kaum aufzuholendes Bildungsdefizit, was im weiteren Verlauf schlechtere Ausbildungs- und Berufschancen und somit einen niedrigeren sozio-ökonomischen Status nach sich zieht.“ Vor allem für Kinder aus bildungsfernen Familien oder Familien mit Migrationshintergrund sei Schulunterricht essenziell und biete mitunter die einzige Möglichkeit Deutsch zu lernen oder sich gut zu entwickeln. „Wir wissen auch, dass Kindern neben ihren Freunden, dem Erwerb sozialer Kompetenzen und dem Lernen im Spiel, auch der geregelte Tagesablauf sowie außerschulische Aktivitäten fehlen.“ Jedes Kind habe ein Recht auf Bildung und soziale Teilhabe, so die Mediziner. Eltern fordern mehr Mittel für Schulen: Auch Claudia Pick, Vorsitzende des Landeselternbeirats Gymnasien, geht davon aus, dass angesichts etlicher ausgefallener Schultage und nicht überall gut verlaufenden Distanzlernens bei fast allen Schülern im Land Lernlücken entstanden sind. „Es ist aber ein unrealistischer Gedanke, und auch nicht von allen Eltern und Schülern gewollt, ein ganzes Schuljahr einzufrieren und es von allen noch einmal wiederholen zu lassen. Da müssen andere Lösungen gesucht werden.“ Damit Schüler die Lernziele erreichen, sollten Schulen die Mittel die ihnen dafür zur Verfügung gestellt werden, zur Förderung ihrer Schüler entsprechend nutzen, um auch externe Hilfe möglich zu machen. „Die Lehrkräfte müssen dabei individuell auf Schülergruppen schauen, was diese genau benötigen, damit sie das Klassenziel bewältigen.“ Dies gelte primär für die Abschlussklassen und auch die, die im nächsten Jahr Abitur machen. Pick: „Da machen wir uns am meisten Sorgen, denn die haben am wenigsten Zeit, den Stoff aufzuholen.“ Sie glaubt, am Ende des Schuljahres werde so mach einer vor der Frage stehen: Macht es Sinn, in der nächsten Jahrgangsstufe weiterzumachen oder soll ich die Klasse lieber wiederholen? Pick: „Es ist gut, dass das Bildungsministerium diese Möglichkeit zulässt.“ Schuljahr kann wiederholt werden: So heißt es in der jüngsten Schul-Info aus Kiel: „Schülerinnen und Schüler, die begründete Sorge haben, dass sie durch die coronabedingten Einschränkungen des Präsenzunterrichts seit dem Frühjahr 2020 oder auch auf Grund der psychischen Belastungen in dieser Zeit Lernrückstände aufgebaut haben, die sie nicht wieder aufholen können, wird die Möglichkeit eröffnet, nach verpflichtender Beratung durch die Lehrkräfte ein Schuljahr zu wiederholen, ohne dass dies auf die Höchstverweildauer angerechnet wird.“ Können Schulbegleiter helfen? Der Grundschulverband Schleswig-Holstein verweist darauf, dass vor allem Grundschullehrer bereits sehr engen Kontakt zu ihren Schülern halten. Deren Vorsitzende, Prof. Dr. Beate Blaseio aus Flensburg, könnte sich allerdings vorstellen, dass Schulbegleiter sich noch vermehrt um die Kinder kümmern könnten. „So könnte man eine noch engere Betreuung herstellen, vielleicht auch eine feste Stunde am Tag festlegen, in der die Kinder besucht werden“, schlägt Blaseio vor. Sie verweist aber auch darauf, dass es nicht das Ziel von Grundschule sei, alle Kinder auf einen Leistungsstand zu bekommen. „Wir holen die Kinder da ab, wo sie stehen.“ Lesen Sie auch „Sh.itslearning“: Unglücklicher Name für Schulplattform in Schleswig-Holstein Prien kündigt für Schulen flexible Prüfungsregelungen an „Leistungsbilanz katastrophal“: SPD verlangt Ablösung von Bildungsministerin Prien Grundschulverband: Kind muss im Fokus stehen: Entscheidend sei viel mehr, wie sich jedes Kind entwickelt. „Und dann kann es auch eine Option sein, den Kindern vielleicht ein extra Jahr an der Grundschule zu geben“, sagt Blaseio. Die Eingangsstufe, also die Klasse 1 und 2, könne sowieso in ein, zwei oder drei Jahren absolviert werden. „Das ist in Absprache mit Eltern und Lehrern eine ganz individuelle Entscheidung, wenn Kindern offensichtlich noch weitere Grundlagen fehlen. Und auch leicht umzusetzen.“ Wichtig sei ihr, dass stets die Bedürfnisse des Kindes im Fokus stehen und keine Gesetze oder Verordnungen bestimmte Entscheidungen ausbremsen würden. „Modifikationen gibt es aktuell ja immer. Es muss geschaut werden, dass denen, die es brauchen, geholfen werden kann.“ Stufenplan regelt Schulöffnung: Nach dem Stufenplan des Landes ist für die Jahrgangsstufen 1 bis 6 erst Wechselunterricht, also eine Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht, möglich, wenn die 7-Tage Inzidenz sieben Tage lang stabil unter 100 liegt. Nach 21 Tagen geht es zurück in den Präsenzunterricht. Das ist auch der Fall, wenn die Inzidenz sieben Tage lang stabil unter 50 liegt – dann ist auch Wechselunterricht für die Klassen 7 bis 13 angesagt. Sie kehren bei stabilen Werten nach 21 Tagen in den Präsenzunterricht zurück. Kiel: Externe Anbieter dürfen helfen: Das Kieler Bildungsministerium hatte den Schulen bereits mitgeteilt, dass sie, um zusätzliche Unterstützung für Schüler zu ermöglichen, im zweiten Halbjahr auf einen Pool von Studierenden und externen Anbietern zurückgreifen können. Diese könnten den Schülern bei den Hausaufgaben, bei der Arbeitsorganisation, beim Aufholen und Vertiefen von Fachinhalten oder im Umgang mit digitalen Medien helfen. Noch im Februar soll über eine Internetseite des IQSH entsprechende Angebote in Ihrer Region abgerufen werden können. GEW: Studenten könnten unterstützen: Damit wird eine Forderung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Schleswig-Holstein erfüllt. Sie hatte vorgeschlagen, dass kurzfristig beispielsweise auch Lehramtsstudierende zum Einsatz kommen könnten, die einzelne Schüler oder kleine Gruppen beim Lernen unterstützen. „Um diesen Kindern und Jugendlichen wirkungsvoll zu helfen, bedarf es aber auch der Einstellung von mehr Lehrerinnen und Lehrern, damit zum Beispiel im kommenden Schuljahr eine intensivere Förderung möglich ist, Versäumtes nachgeholt werden kann“, sagt Geschäftsführer Bernd Schauer. Der Akzent müsse dabei auch weg von Einhaltung von Lehrplänen, Klassenarbeiten und Prüfungen, damit Zeit für besondere Fördermaßnahmen da sei. Betroffenen Schüler müssten gegebenenfalls auch die Möglichkeit erhalten, individuell an Arbeitsplätzen in der Schule zu lernen, wenn das bei ihnen zuhause nicht möglich ist. GEW will andere Wechselunterrichtsmodelle: Beim Thema Wechselunterricht favorisiert die GEW ein anderes Modell als das Kieler Bildungsministerium. „Wir plädieren dafür, dass der Wechsel der Gruppen nach zwei Tagen und nicht erst nach einer Woche erfolgt. Sonst könnte vor allem das Lernen von Grundschülern auf der Strecke bleiben.“ Spätestens am dritten Tag brächten viele Kinder Unterstützung durch ihre Lehrer. Sonst drohe neu Gelerntes schnell in Vergessenheit zu geraten. „Es ist nämlich nicht davon auszugehen, dass alle Schüler eine Woche lang allein vor Arbeitsplänen sitzen und diese selbstständig bearbeiten können. Einzelne Zeitfenster am Nachmittag reichten nicht, um den Kindern gerecht zu werden.“ Grüne fordern Bildungsschutzschirm: Bundesbildungsministerin Karliczek hatte bereits an die Länder appelliert, zusätzliche Lernangebote für Schüler zu schaffen, damit sie den versäumten Unterricht aufholen könnten. Grünen-Chefin Annalena Baerbock fordert außerdem einen Bildungsschutzschirm, zu dem ein bundesweiter Anspruch auf Corona-Förderung bei Lernrückständen gehören soll. Erziehungswissenschaftlerin rät zu Gelassenheit: Die renommierte Erziehungswissenschaftlerin Renate Zimmer aus Niedersachsen rät in der Diskussion um Schulschließungen unterdessen zu mehr Gelassenheit. Eltern sollten sich beim Homeschooling nicht unter Stress setzen lassen und Sorge haben, dass ihre Kinder zu Hause nicht genügend lernten, sagte Zimmer. Es sei völlig überzogen, wenn Mediziner vor lebenslangen Bildungslücken warnten: „Da muss man mal die Kirche im Dorf lassen.“ Zwar seien Unterbrechungen im laufenden Schuljahr schwieriger zu kompensieren, aber auch das wäre kein Problem, wenn der Lernstoff durchforstet und auf manches verzichtet würde. Viel wichtiger sei es, den Kindern die Begeisterung und die Lust am Lernen zu erhalten. „Das macht man aber nicht, wenn immer alle in Stress geraten, weil Kinder nicht genügend ausgestattet sind, und Lehrer beschuldigt, sie gäben den Kindern nicht genügend Aufgaben.“ Von Jan Wulf