Volle Paranoia: Jette Steckel inszeniert „Hamlet“ am Thalia Theater

Meterhoch ist das schwarze Ding, das im Thalia Theater ständig über der Bühne schwebt. Ein riesiger schwarzer Ball, der raumgreifend hin und her schwingt, bedrängend, bedrohlich, bedrückend. Einmal, in diffuses Licht getaucht, löst er sich fast auf, erscheint wie eine die Sinne verwirrende Fata Morgana, deren letzte Bedeutung nicht zu entziffern ist. Rätsel und Ungereimtheiten: Die pendelnde Kugel ist nicht das einzige Rätsel in Jette Steckels Inszenierung von Shakespeares „Hamlet“, aber manches Rätsel entpuppt sich als schlichte Ungereimtheit. Warum – nur ein Beispiel – muss Prinz Hamlet im zweiten Teil der Aufführung nackt und bloß bis auf die Unterhose auftreten? Mag ja sein, dass die Regisseurin sich auch dabei etwas gedacht hat, aber was sie sich gedacht hat, kann sie nicht richtig vermitteln. Hamlet als Paranoiker: Aussagestark und unmissverständlich hingegen ihre Ausdeutung des Protagonisten. Sie holt ihn vom Podest des edlen Helden, der die Ermordung seines Vaters rächen will, herunter und stellt ihn dar als Paranoiker, der die Dinge nicht so sieht, wie sie sind, sondern so, wie er sie sehen will. Hamlets Welt ist eine Welt nach seinem Willen und seiner Vorstellung – und da hinein passt eben nicht die zweifelnde Frage, ob der jetzt regierende König Claudius tatsächlich schuld ist am Tod seines Vaters oder nicht. Er ist es. Der Prinz indes braucht keinen einzigen Beweis dafür, er braucht nur seine Obsessionen, um einen Rachefeldzug zu beginnen, der in einer Katastrophe endet. Die Tragödie wahnhafter Verblendung. Ironische Spielereien, plumpe Komödiantik: Eine Tragödie? Eher nein. Auch Jette Steckel ist offensichtlich infiziert von der Mode, das Tragische nicht mehr ganz so tragisch zu nehmen. Sie unterminiert es mit ironischen Spielereien, die bisweilen in plumpe Komödiantik umschlagen. Dann darf der Prinz die vom misstrauischen Claudius beauftragten Aufpasser Rosencrantz (Julian Greis) und Guildenstern (Björn Meyer) wie im drittklassigen Lustspiel einseifen, und eine sehr muntere Ophelia (Marie Jung) muss das Publikum zum Mitsingen eines etwas einfältigen Liedchens animieren. Thalia-Hausregisseurin Jette Steckel bringt mit „Hamlet“ nach „Romeo und Julia“ und „Der Sturm“ ihre dritte Shakespeare-Inszenierung auf die Bühne des Thalia Theaters in Hamburg. Die Tragödie um den von Wahn und Rache zerrissenen Dänen-Prinzen dauert mit Pause fast dreieinhalb Stunden. Auf der Webseite kann man ein Making-of-Video ansehen unter: www.thalia-theater.de/stueck/hamlet-2019 Nächste Vorstellungen: 28. 1., 19 Uhr; 1. 2., 18 Uhr. Karten: 040/32 81 44 44 Weit inspirierter dagegen der Einstieg per Live-Video, übertragen vom Treppenhaus und Foyer in den Theatersaal. Eine nicht mehr ganz taufrische Idee, die aber den Vorteil hat, dass mitwirkende Schauspieler und wichtige Handlungsstränge den Zuschauern im Voraus schon mal vorgestellt werden. Das Spiel auf der Bühne beginnt dann mit dem Auftritt der auf Schloss Helsingör gastierenden Wandertruppe, den Claudius von oben aus seinem Logenplatz verfolgt, während unten Hamlet höchstselbst Regie führt, um König-Darsteller und Königin-Darstellerin zu einem möglichst drastischen Vorzeigen des Vater- und Brudermordes anzutreiben. Spiel im Spiel, bei dem Hamlet sich mehr und mehr in seinen Wahn verstrickt. Schlag nach bei Shakespeare: In dieser Wahnsinnsrolle verausgabt Mirco Kreibich sich restlos. Zum Staunen sein umwerfender Furor, seine bedingungslose Expressivität. Am eindringlichsten – und traurigsten – aber spielt er, wenn er sich im Finale mit Laertes (Rafael Stachowiak) duelliert. Kreibichs Prinz ficht da nur mit Arm und Hand, jedoch wunderbar wendig gegen einen gerüsteten Gegner – und demonstriert so die diesmal doch schöne Macht der Vorstellungskraft. Tot am Boden liegt er schließlich trotzdem wie Königin Gertrud, seine Mutter (souverän und sensibel: Barbara Nüsse), während sich deren Gatte, der Schurke Claudius (herrlich zynisch: Bernd Grawert), ungeschoren aus dem Staub macht. Und Horatio, Hamlets bester Freund (Jirka Zett), berichtet noch per Handy und englischer Sprache über das Ende. Schlag nach bei Shakespeare? Dort steht es ganz anders. Lesen Sie auch: Nino Haratischwilis „Die Katze und der General“ am Thalia Theater Shakespeare in Lübeck ließ einige Fragen offen Jubiläen und Rekorde – das war das Kulturjahrzehnt im Norden Von Hermann Hofer

„Hamlet“ in Hamburg - Volle Paranoia: Jette Steckel inszeniert „Hamlet“ am Thalia Theater