Wirft die Corona-Krise Frauen in Schleswig-Holstein zurück?

„Die Corona-Pandemie ist für viele Bereiche eine große Belastung, vor allem aber auch für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern“, sagt Anke Homann, Vorsitzende des Landesfrauenrats Schleswig-Holstein. „Die Pandemie ist ein Brennglas für die herrschenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern.“ Frauen, insbesondere diejenigen, die in sogenannten systemrelevanten Bereichen arbeiteten, würden einen immensen Beitrag zur Bewältigung der Krise leisten. „Dafür bekommen sie zwar gesellschaftliche Anerkennung, aber es findet kaum Beachtung in den politischen Entscheidungen“, kritisiert Homann. „Wir sind zurück in der Männerwelt“: Um drei Jahrzehnte sei der erreichte Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung durch die Virus-Krise zurückgeworfen worden, erklärte die Soziologin Jutta Allmendiger jüngst in der Talkshow „Anne Will“. Homann geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wir sind zurück in der Männerwelt. Das Patriachat lebt. Es drohen erhebliche Rückschritte in Bezug auf die Gleichberechtigung der Geschlechter“, sagt sie. Frauen mit Kindern treffe es besonders hart. Studien zufolge würden Frauen in Haushalten mit Kindern mehr als 80 Prozent der Hausarbeit übernehmen. Weil zusätzlich dazu auch noch die Kinderbetreuung anfällt, die einen Großteil des Tages einnimmt, können „Erwerbs- und andere Hausarbeit nur in den Ruhezeiten der Kinder erledigt werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Mütter diese Zeit als äußerst belastend ansehen“, so Homann. Frauen dürfen nicht zu Verliererinnen der Coronavirus-Krise werden: Die Krise mache deutlich, welche gesellschaftlichen Konflikte schon immer vorhanden waren, sagt auch Grünen-Politikerin Aminata Touré, Sprecherin für Frauen und Gleichstellung. Dass Frauen diejenigen sein würden, die all diese Aufgaben größtenteils übernehmen würden, war ihr schon vorher klar. Bezüglich der Rückwürfe von Frauen in Zeiten der Corona-Krise, differenziert Touré noch einmal zwischen kinderlosen Frauen und solchen mit Kindern: „Eine Frau mit Kindern, die weniger verdient als ihr Partner oder alleinerziehend ist, ist eher dazu gezwungen, beruflich kürzer zu treten“ und werde daher auch härter von der Krise gestraft. Aus diesem Grund würden die Grünen ihren Fokus auch besonders auf Familien, Kinder und Frauen richten. „Einerseits, weil Frauen vielen systemrelevanten Berufen nachgehen, und andererseits, weil sie nicht die Verliererinnen der Krise werden dürfen“, betont Touré. „Kinderbetreuung ist der Schlüssel zur Gleichstellung“: Auch Katja Rathje-Hoffmann, sozialpolitische Sprecherin und stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende, kritisiert: „Die betreuenden Aufgaben dürfen nicht an das Geschlecht gekoppelt sein, sondern müssen gleichmäßig und gerecht unter den Partnern aufgeteilt werden. Andernfalls führt das zu einer Rolle rückwärts in der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau.“ Das LN Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Lübeck dienstags bis samstags gegen 7 Uhr im E-Mail-Postfach „Die Kinderbetreuung ist der Schlüssel zur Gleichstellung“, betont die SPD-Vorsitzende Serpil Miyatli. Weil ein Großteil der Hausarbeit, Kinderbetreuung und des Homeschoolings in den vergangenen Wochen an Frauen hängen geblieben sei, fühlten diese sich in ein klassisches Rollenmuster gedrängt. „Die Corona-Krise hat uns zumindest zeitweilig um Jahre bei der Gleichstellung zurückgeworfen.“ Die stellvertretende Vorsitzende der FDP, Anita Klahn, sieht die Gleichberechtigung als ein grundsätzliches Thema, „unabhängig der Corona-Krise“. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müsse besser werden, „aber noch fehlt es an einem ausreichenden Angebot und erweiterten Öffnungszeiten für die Kinderbetreuung.“ Zwar gingen viele Arbeitgeber mit gutem Beispiel voran, aber auch dort sei „bei der Arbeitsplatzgestaltung für Eltern mit Kinder noch Luft nach oben. Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice-Modelle sind wichtig, damit die Gleichberechtigung auch gelebt werden kann“, sagt Klahn. Eine Milliarde Euro hat das Land bereitgestellt, um die Schleswig-Holsteiner während der Coronavirus-Krise zu unterstützen. Davon profitieren auch Frauen: Unter anderem wurden 500 000 Euro für Frauenhausplätze und Frauenberatungsstellen bereitgestellt. Alle Pflegekräfte in Schleswig-Holstein erhalten außerdem einen einmaligen Pflegebonus in Höhe von 1500 Euro. Weil vor allem Frauen in der Pflege arbeiten, nämlich 24.340 gegenüber 4.981 Männern, kommt auch insbesondere ihnen der Bonus zu gute. Was können Frauen tun, um nicht in die Rolle der Hausfrau zurückzufallen? Inwieweit Frauen tatsächlich einen Rückfall in traditionelle Rollenbilder erleben würden, ließe sich abschließend erst nach der Corona-Krise bewerten, so Aminata Touré. „Aber jede Krise ist eine Probe für gesellschaftlichen Fortschritt.“ Und so auch für die Gleichberechtigung von Frauen. Feministische Forderungen würden gerade jetzt zeigen, wie notwendig es sei, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Die Feministinnen Cordelia Röders-Arnold und Sally Lisa Starken fordern in einer Kampagne lautstark Gleichberechtigung #stattblumen. Mit dem Namen und Hashtag der Kampagne wollen sie untermauern, dass Frauen mit Blumen keine Miete zahlen, nicht ihre Kinder betreuen könnten und diese sie auch nicht vor Gewalt schützen würden. Stattdessen brauche es Gleichberechtigung. Touré unterstützt die Initiative. Es sei nicht allein die Aufgabe von Frauen, sich dafür einzusetzen, nicht in die Rolle der Hausfrau zurückzufallen, „sondern von allen in der Gesellschaft. Es geht darum, die Wahl zu haben, ohne dafür schlechter zu stehen. Weder finanziell, noch gesellschaftlich.“ Bei der Benachteiligung von Frauen handele es sich um ein strukturelles Problem. „Wir Grüne fordern daher schon lange die Abschaffung des Ehegattensplittings, Lohngleichheit, ein Parité-Gesetz, damit Frauen besser in den Parlamenten repräsentiert sind und vieles mehr“, sagt Touré. Leider gebe es für diese und andere Maßnahmen nicht immer politische Mehrheiten, „aber wir Grüne werden weiter dafür kämpfen“. Elternschaft geht mit Retraditionalisierung familiärer Rollen einher: Britta Thege, Geschäftsführerin des Instituts für Interdisziplinäre Genderforschung und Diversity an der Fachhochschule Kiel, sagt: „Wir waren gesamtgesellschaftlich nie enttraditionalisiert, allenfalls in bestimmten sozialen Milieus.“ Zwar hätten sich auf breiter Basis egalitäre Rollenbilder durchgesetzt, „faktisch aber, und das belegen viele Untersuchungen, geht Elternschaft in Deutschland häufig mit einer Retraditionalisierung familiärer Rollen einher: Mütter reduzieren ihre Erwerbstätigkeit, um Familien- und Erwerbsarbeit zu vereinbaren, Väter bleiben meist in ihrer Vollzeiterwerbstätigkeit.“ Das sei zum einen eine ökonomisch rationale Entscheidung, weil Frauen in der Regel weniger verdienen würden als Männer. Außerdem werde die Elternzeit noch immer als „Mutterpflicht“ angesehen. Inwieweit die Corona-Krise die Problematik verschärfe, vermag Thege aber noch nicht zu sagen. Wo Gleichberechtigung besser funktioniert: „Bisher hat noch kein einziges Land der Welt vollständige Geschlechterparität und Gleichberechtigung erreicht“, bemängelt Thege. Dennoch gebe es Länder, die Deutschland weit voraus seien: „Bei weltweiten Gleichstellungsrankings liegt Island seit Jahren an der Spitze, gefolgt von den skandinavischen Ländern Norwegen, Finnland und Schweden.“ Laut Thege kamen in eben diesen Ländern nach der Finanzkrise 2008 mehr Frauen in die Politik, in Island und Finnland stehen Frauen gar an der Spitze der Regierung. „Es kam zur Einführung einer Geschlechterquote von 40 Prozent für Firmen mit mehr als 50 Beschäftigten“, skizziert Thege. Und: Die Isländer beispielsweise „leben Gleichberechtigung“ vom Kindergarten an. „Nichtsdestotrotz gibt es auch hier einen hohen Anteil an unbezahlter Hausarbeit, den vor allem Frauen leisten und einen stark segregierten Arbeitsmarkt“, sagt Thege. So würden Frauen vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen arbeiten. Was kann Schleswig-Holstein für mehr Gleichberechtigung tun? Und dennoch: Deutschland und speziell auch Schleswig-Holstein könnten sich eine Menge von diesen Ländern abschauen. „Es braucht mehr Frauen in der Politik und den Parlamenten und außerdem neue Leitbilder von Frauen und Männern“, schlägt Thege vor. Zwar hätte Deutschland auf Gesetzesebene bereits viele Weichen für mehr Gleichberechtigung gestellt, „es sind aber nach wie vor Gender-Stereotype in den Köpfen“ der Menschen verankert, „die der tatsächlichen Gleichstellung entgegenstehen“. Serpil Midyatli erklärt, dass es ein ganz neues Verständnis der Arbeitswelt brauche. „Wenn beide 30 Stunden arbeiten, geht es mit der partnerschaftlichen Betreuung besser, als wenn er 40 und sie 20 Stunden arbeitet. Ich glaube, dass gerade in Krisen die Möglichkeit für solche Veränderungen besteht. Diese Chance müssen wir ergreifen!“ Die LN-Themenseite mit allen Artikeln zum Thema Corona Coronavirus in SH: Das ist die aktuelle Zahl der Infizierten Liveblog zur Corona-Krise: Das ist die Lage in Lübeck und Schleswig-Holstein Schutzmasken richtig tragen: So geht’s! Alle aktuellen Informationen aus Deutschland und der Welt im Live-Blog #supportyourlocal: Machen Sie Ihr Angebot bei uns bekannt #supportyourlocal: So helfen Sie Geschäften, Restaurants und Freiberuflern in Lübeck Corona-Tests an Schulen: Die neue Strategie der Landesregierung Schweden-Rückkehrer müssen in Quarantäne Lockerungen: Diese Dinge sind seit dem 8. Juni in Schleswig-Holstein wieder erlaubt Die Regeln gelten seit dem 8. 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