BC Lübeck: Mehr als nur ein Boxclub

Katharinenstraße in Lübeck. Tolga Tanriverdi sitzt auf einem Hocker, schaut in die Boxhalle. Sein „Wohnzimmer“ ist menschenleer. Und es ist still, befremdlich still. Sandsäcke, die sonst mit Schlägen malträtiert werden, hängen schlaff am Haken. Sprungseile liegen vergessen in der Ecke, Gewichte einsam in ihren Boxen. Lediglich ein zarter Hauch von Schweiß, der durch die Luft wabert, erinnert an vergangene Tage, als hier noch das täglich Leben getobt hat. „Und das fast rund um die Uhr. Die ersten waren früh um sechs Uhr da, vor der Schule oder dem Job. Und abends haben wir um halb zehn das Licht ausgemacht“, erzählt der Vereinsvorsitzende und Trainer. Corona hat auch das Leben beim Boxclub Lübeck heruntergefahren. Aufnahmestopp trotz Corona: Dabei hatte der Verein der Pandemie einen Aufwärtshaken verpasst, so viele Neueintritte, dass bei aktuell 320 Mitgliedern plus die 70 Kickboxer der Celik Champs ein Aufnahmestopp ausgesprochen werden musste. „So viel Neue hatten wir noch nie, wir sind damit an unsere Grenzen gekommen“, sagt Tanriverdi, der aktuell lediglich mit sechs seiner 20 Elite-Athleten trainiert. „Und das einzeln, meist nachmittags, alles vom Gesundheitsamt abgesegnet.“ Nur: Der Rest darf nicht. „Das ist für viele sehr schwer, sie brauchen den Kontakt, nicht nur durchs Boxen“, erzählt Tanriverdi, der sich mit seinen Trainern aufs Digitale verlegt hat. Seit Kurzem gibt es eine Vereins-App, auch selbst gedrehte Videos mit Aufwärm- und Technikübungen. „Die Perspektivkader haben zudem Trainingspläne, mit Gewichtszielen bis März“, erzählt der 39-Jährige. Keine Frage: Tanriverdi will mit seinem Trainerteam trotz der Einschränkungen für seine Mitglieder da sein. Dass er mit seinen Jugendlichen zur Trainingszeit derzeit via Zoom einfach „nur mal so quatscht“, gehört auch dazu. Tanriverdi: „Gerade die Zeit des Lockdowns hat gezeigt, wie wichtig unsere Betreuung ist.“ Den Boxclub Lübeck gibt es seit 1976. Er hat seine Heimat im Stadtteil St. Lorenz. Der Verein hat mehr als 300 Mitglieder plus die Sparte Kickboxen („Celik Champs“). Mehrere Titel bei nationalen und internationalen Meisterschaften stehen für die erfolgreiche Arbeit. Dazu zählen auch die gute Jugendarbeit und zahlreiche soziale Projekte, wie Integration durch Sport, Sport gegen Gewalt und Kooperationen mit Schulen. Vereinsvorsitzender ist Tolga Tanriverdi, der insgesamt fünf weitere Trainer in seinem Team weiß. Bekanntester Coach: Annemarie Stark, mehrfache deutsche Meisterin, EM-Dritte und WM-Teilnehmerin, die auch Sichtungscoach am OSP Schwerin ist. Nationale und internationale Titel: Es ist diese Hingabe, das außergewöhnliche Engagement, dass den Club zu einem der Top-Adressen des Boxsports im Norden gemacht hat. Die Pokale im Trainerzimmer, EM-Bronze und die WM-Teilnahmen durch Vorzeigeathletin Annemarie Stark, die deutschen Meistertitel, auch DM-Bronze durch Temur Mamoyan bei den Amateur-Titelkämpfen in Lübeck stehen dafür. Doch es sind nicht nur die sportlichen Erfolge. Denn der Verein ist mehr als nur ein Boxclub. Hausaufgabenhilfe, Berufsberatung, Boxen für Frauen und Flüchtlinge: Neben dem Sport bieten Tanriverdi & Co. Hausaufgabenhilfe an, bereiten ihre Schützlinge auf Arbeiten und Tests vor, unterstützen sie beim Erarbeiten von Lebensläufen, helfen bei Bewerbungsgesprächen, der Berufsberatung oder mit Praktika. „Bei uns lernen sie auch, einen Besen zu führen, da geht es um strukturiertes Arbeiten“, erzählt Tanriverdi, der auch das Thema Gewaltprävention und soziale Medien mit den Jugendlichen bespricht. Mehr als 240 sind im Verein, der Jüngste ist vier, „und alle wollen lernen. Das sind Vampire, die fressen dich auf“, erzählt er lachend. Für den gelernten Groß- und Außenhandelskaufmann, der aktuell im Fernstudium noch Sozialpädagogik studiert und zudem noch Integrationslotse ist, ist der Boxclub „meine zweite Familie“. Dazu gehören auch Annemarie Stark und Hüseyin Ertugrul, der 2. Vorsitzende. Beide haben neben ihren Jobs unter anderem das mehrfach ausgezeichnete Projekt „Boxen für Frauen mit Migrationshintergrund und Flüchtlinge“ ins Leben gerufen. Es ist gelebte Integration. Lesen Sie auch: Muslima boxen im Boxclub Lübeck Neues Projekt: Boxen in der Schule: Davon hat auch der Peruaner Marco Santiago profitiert, der nach seinem Freiwilligen-Dienst jetzt Meister im Ring und in der Backstube werden will. Auch dabei hat der Boxclub geholfen. Das Credo: „Die Jugendlichen sollen bei uns auch etwas fürs Leben mitbekommen. Wir sind offen für Leute, die zu uns nicht nur wegen des Sports kommen“, sagt Tanriverdi. Dazu zählt auch, dass er mit einigen vor der Schule trainiert, „damit sie wacher sind“. Das neueste Projekt: Boxen als Schulprojekt. In der Schule am Tremser Teich ist er da auf offene Ohren gestoßen. Das Anbieten von FSJ-Stellen und die Trainer-Ausbildung („Wir haben zu wenig Frauen als Coach“) steht für 2021 noch auf seinem Plan. Boxclub kämpft um Hallenanbau: Nur: Tanriverdi hat ein Problem. „Wir platzen aus allen Nähten.“ 200 Quadratmeter in der Halle, plus Kraftraum, je zwei Kabinen, Toiletten und Duschräume reichen nicht. Tanriverdi hat sich schon nach Alternativen umgeschaut, aber alles wieder verworfen. Ein Anbau soll jetzt her – mit Behinderten-WC, Kabinen und einem Raum fürs Lernen, „da viele zu Hause keine Möglichkeiten haben“. Dass dafür noch die Gelder fehlen, der Denkmalschutz und Vorgaben Grenzen setzen, hindert Tanriverdi und sein Team nicht. Denn Kämpfen ist für sie längst Leidenschaft – und das nicht nur in der Halle. Von Jens Kürbis