Julia Görges: Wie der Tennis-Star aus Bad Oldesloe die Welt eroberte

Zuerst wirkte Julis Görges ehrlich überrascht, als sie die Nachricht erreichte, dass sie zur LN-Sportlerin des Jahrzehnts gewählt worden war – und das mit großem Abstand. „Ich fühle mich geehrt gegenüber meiner Karriere, aber auch für die Region. Denn das sind ja meine Wurzeln, da wo ich herkomme. Es ist etwas Besonderes“, sagte die 32-Jährige, die das Tennisspielen in Bad Oldesloe, ihrer Geburtsstadt, erlernte. „Schon mit zwei Jahren war ich Mitglied in unserem Tennisklub, angefangen zu trainieren, habe ich mit fünf“, erzählt sie. „Erst habe ich vieles nebenbei gemacht, auch schwimmen und tanzen – dann fast nur noch Tennis.“, Sie machte den nächsten Step nach Wahlstedt, wurde immer besser. Dann zog sie in die Welt hinaus, um eine der ganz Großen ihrer Branche zu werden. Und obwohl sie bald mehr unterwegs als daheim war, verfolgten die Menschen in ihrer Heimatregion den Werdegang. Sechs Mal zwischen 2005 und 2012 wurde Julia Görges zur LN-Sportlerin des Jahres gewählt. Logisch, dass sie dann auch für die Jahrzehnt-Wahl nominiert werden musste. Lesen Sie auch LN-Sportlerwahl des Jahrzehnts: Julia Görges und Jan Schult gewinnen LN-Sportler des Jahrzehnts Jan Schult: Das sagen seine Weggefährten über ihn Endgültiger Durchbruch 2011 beim WTA-Turnier in Stuttgart: Denn das Jahrzehnt, um das es geht, zählte von 2011 bis 2020 – exakt der Rahmen, in dem „Jule“ die WTA-Tennis-Geschichte entscheidend mit schrieb. Zwar war sie auch vorher schon erfolgreich, aber das erste große Ausrufezeichen setzte die Oldesloerin 2011 in Stuttgart. Dort war sie die Erste aus der so genannten „goldenen Generation“, zu der neben ihr selbst auch Angelique Kerber, Andrea Petkovic und Sabine Lisicki zählten, die ein WTA-Turnier gewann. Im Finale bezwang sie die damalige Weltranglisten-Erste, die Dänin Caroline Wozniacki. Als Zugabe gab es einen Porsche für die junge Siegerin, die Partnerschaft zu dem Edel-Automobilsten besteht bis heute. Plötzlich sei sie in die Öffentlichkeit geschleudert, erinnerte sich Görges, die Erwartungen seien danach riesengroß gewesen. Es war der Start auf die ganz große Tour, obwohl sie bereits seit 2005 in der WTA-Profiliste geführt wurde. Die schulische Ausbildung lag hinter ihr (Theodor-Mommsen-Realschule Bad Oldesloe, Dorothea-Schlözer-Fachhochschule Lübeck), Tennis – ihre Berufung – war längst ihr Beruf. Sieben WTA-Titel stehen in ihrer Vita, fünf kommen im Doppel hinzu, am 20. August 2018 wurde Julia Görges auf Platz neun der WTA-Weltrangliste geführt. Um diesen Sprung machen zu können, hatte sie sich 2015 zu einem radikalen Schnitt entschieden. Görges brach ihre Zelte in Norddeutschland ab, beendete nach sieben Jahren die Zusammenarbeit mit ihrem Trainer Sascha Nensel und zog nach Regensburg, wo ihr neuer Coach Michael Geserer sie bereits bei Bundesligist Rot-Blau Regensburg trainierte. Görges: So hat sich der Tennissport verändert: Es waren erfolgreiche Jahre, Gewinn der B-WM in Zhuhai 2017, WTA-Sieg in Auckland 2018, den sie 2019 wiederholte. Welches waren ihre persönlichen Highlights – welches die Tiefs? „Schwer zu sagen“, wiegelt Görges ab. „Höhen und Tiefen gibt es immer, das bringt der Sport so mit. Ich hatte viele Highlights. Dann aber auch ein paar Jahre, wo es nicht so gut lief, wo ich trotzdem noch unter den ersten 60 in der Welt war, was so schlecht nicht ist, aber einfach meinen Ansprüchen nicht genügte. Ich würde es nicht fair finden, jetzt ein Highlight raus zu nehmen angesichts dessen, was ich in 15 Jahren geleistet habe. Sie hatte miterlebt, wie sich ihre Sportart gewandelt hatte. „Es ist mit den Jahren immer athletischer und schneller geworden“, sagt Görges. „Es gab immer mehr Preisgeld, dadurch konnte man ein ganzes Team mit auf den Circuit nehmen, das man auch braucht, um erfolgreich zu sein – Trainer, Physio, Fitnesscoach. Talent allein reicht nicht mehr, du musst auch immer körperlich und mental topfit sein.“ Spektakulärer Rücktritt via Internet am 21. Oktober 2020: Diese 15 Jahre beendete Julia Görges recht spektakulär. Am 21. Oktober 2020 schrieb sie auf ihrer Homepage: „Time to say goodbye – Liebes Tennis, ich schreibe Dir diese Zeilen, weil ich bereit bin, mich von Dir zu verabschieden. Ich habe immer gewusst, dass ich es fühlen werde, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, zu Dir Tschüss zu sagen – der Moment ist da. Ich bin bereit das Kapitel Tennis zu schließen und ein Neues aufzumachen, worauf ich mich sehr freue.“ Eigentlich, das hatte sie Anfang des Jahres gesagt, wollte sie noch ein, zwei Jahre spielen – aber dann hat wohl auch Corona ihre Entscheidung beeinflusst. Indian Wells, das WTA-1000er-Turnier stand im März auf dem Programm, Görges flog 24 Stunden hin, hatte zwei Trainingseinheiten, dann wurde das Event wegen Covid-19 abgesagt – und es ging wieder auf einem 24-Stunden-Trip zurück nach Hause. Danach spielte sie noch eine Runde im September in Rom, zwei Runden Ende September in Paris im verschobenen Grand Slam auf der legendären Roland-Garros-Anlage, ihr letztes Spiel verlor sie gegen Laura Siegemund mit 6:1, 1:6, 3:6 – das war’s, drei Wochen später sagte sie Goodbye. Seit vier Monaten nicht Tennis gespielt: Was bleibt? Tolle Erinnerungen, auch Freunde – manche vielleicht für’s Leben. Und die Erkenntnis. Es geht auch ohne. „Ich habe die Zeit auf der Tour wirklich genossen“, sagt sie aus vollem Herzen. „Aber es ist ein spezielles Leben, Platz, Flughafen, Hotel – es ist von außen schwer zu beurteilen, wie hart das sein kann. Dafür muss man gemacht sein. Aber ich war glücklich, ich durfte mein Hobby zum Beruf machen. Jetzt habe ich plötzlich viel Zeit – und ich genieße auch das sehr. Weihnachten zum Beispiel zu Hause bei meiner Familie in Bad Oldesloe, das hatte ich vermisst, das kannte ich seit Jahren nicht.“Und sie stellt fest, dass sie plötzlich entspannter ist, nicht mehr „so durchgetaktet“. Sport? „Natürlich“, sagt Julia Görges. „Ich mache mit meinem Coach Scott Byrnes fast das gleich Fitnessprogramm wie früher. Aber Tennis habe ich seit vier Monaten nicht gespielt.“ Neues Projekt als Social-Media-Reporterin: Sie sucht nach neuen Projekten, richtet sich in ihrem neuen Leben ein – und wird dem Tennissport natürlich erhalten bleiben. Görges ist und bleibt auch nach dem Karriereende Markenbotschafterin bei Porsche. Der Marke, der sie seit 2011 verbunden ist. Sie den Porsche Tennis Grand Prix in Stuttgart, das WTA-Turnier im März, repräsentieren dabei soll sie Turnierdirektor Markus Günthardt und die sportlichen Leiterin Anke Huber unterstützen. Und sie soll für den Partner als Reporterin in den sozialen Medien arbeiten. Geplant ist, dass sie sich dann mit ehemaligen Kolleginnen und Freundinnen sozialmedial austauscht. Das wird ein Teil des neuen Lebens der Julia Görges. „Ein spannendes Projekt“, sagt sie. „Ich freue mich drauf.“ Von Jürgen Rönnau