VfB Lübeck: Ein Jahr Rocco Leeser - der Sportdirektor zieht Bilanz

Vor exakt einem Jahr beförderte der VfB Lübeck seinen Nachwuchschef Rocco Leeser (53) nach dem Rücktritt von Stefan Schnoor zum neuen Sportdirektor und stattete ihn mit einem Vertrag bis zum 30. Juni 2021 aus. Rund 40 Bewerber hatte es für den Posten gegeben, Vorstandssprecher Thomas Schikorra und Aufsichtsrat Timo Neumann sagten nach der Leeser-Präsentation: „Wow! Das ist es, da geht jetzt nicht mehr viel drüber! Der lebt unsere DNA und Identität mit.“ Der Holländer bekam den Zuschlag – jetzt zieht er nach einem Jahr exklusiv im VfB-Format 1919 eine Bilanz. Herr Leeser, seit genau einem Jahr sind Sie jetzt Sportdirektor beim VfB Lübeck – wie sieht Ihre Bilanz dieser ersten 12 Monate aus? Das war ein sehr intensives Jahr, in dem unglaublich viel passiert ist. Es begann ja dann gleich die Transferperiode, da habe ich quasi täglich von 7 bis 23 Uhr gearbeitet. Vorher hatte ich vielleicht sieben Telefonate am Tag, plötzlich waren es 70. Es war, als wäre ich auf acht Schachbrettern gleichzeitig unterwegs. Die ersten zwei Monate habe ich grünen Schnee gesehen, wie wir in Holland sagen, wenn man vor Arbeit und Stress gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Was waren denn die ersten Deals, um die Sie sich kümmern mussten, wer hat Ihnen geholfen? Zuerst mal muss ich mich da bei Timo Neumann aus unserem Aufsichtsrat bedanken, der mich unheimlich unterstützt hat mit seinem Know-how und seinen Kontakten. Aber natürlich war immer unser Trainer Rolf Landerl, zu dem ich einen sehr guten Draht habe, der erste Ansprechpartner. In der Zeit ging es zum Beispiel um Marcel Schelle, der den Verein verlassen wollte – und ja auch hat. Es ging um neue Jungs für die neue Saison, von der wir nicht wussten, ist es 4. Liga oder ist es 3. Liga. Wir haben da schon mit Mirko Boland und auch mit Thorben Deters entscheidende Gespräche geführt. Aber auch für die damals laufende Saison haben wir ja gesucht – und gefunden. Morten Rüdiger kam in dem Winter, Elsamed Ramaj wurde ausgeliehen zum Beispiel. Ich war froh, dass ich im Trainingslager in Chiclana auch mal durchatmen konnte. Was war denn das Highlight bisher, was der Tiefpunkt? Natürlich ist der Aufstieg in die 3. Liga, den wir geschafft haben, nicht zu übertreffen in dem Jahr. Und jetzt ist eigentlich ja jeder Spieltag für uns ein Highlight. Wir werden in ganz Deutschland wahrgenommen, spielen eine Rolle. Einen Tiefpunkt würde ich es zwar nicht nennen, aber die Niederlage im Pokalfinale gegen Todesfelde, das war schon eine riesige Enttäuschung, da war ich schon eine Woche lang echt niedergeschlagen. Jetzt ist fast die erste Halbserie in der 3. Liga vorbei. Ist der VfB angekommen in der neuen Klasse? Auf jeden Fall. Auch, wenn wir in den ersten sieben Spielen nur zwei Punkte geholt haben, haben wir immer die Ruhe bewahrt. Denn die Spiele haben immer gezeigt, dass wir mithalten können. Vielleicht war das Spiel bei 1860 München da eine Ausnahme. Und die Jungs haben unglaublich schnell gelernt, sind disziplinierter geworden, haben individuelle Fehler abgestellt. Unser Trainerteam, allen voran Rolf Landerl, der eine unglaublich hohe Sozialkompetenz hat, konnte jedem einzelnen vermitteln, welchen Job er auf dem Platz innerhalb des Teams und im Matchplan zu erledigen hat. Das ist verinnerlicht worden, wir haben dann ja auch vier Spiele am Stück gewonnen – das hatte uns niemand zugetraut. 22 plus drei hieß eigentlich mal die Grundformel für ihre Kadergröße, nun sind’s 29. Warum doch so viele? Das hat natürlich auch mit Corona zu tun, mit der extrem engen Taktung, den englischen Wochen und der damit verbundenen Belastung jedes Einzelnen. Da brauchst du auch die Jungs von Nummer zwölf bis 29 im Kader. Und Jungs wie Ersin Zehir und Pascal Steinwender, die wir schon länger auf dem Zettel hatten, kamen sehr spät dazu. Sie tun uns gut, wie man schon sehen konnte. Sieben von diesen 29 Spielern haben aber noch nicht eine einzige Einsatzminute in der Liga verzeichnet – schürt das nicht Unruhe? Natürlich haben alle Spieler den Wunsch zu spielen. Aber das Trainerteam managt diese schwierigen Entscheidungen gut. Schade, dass jetzt vielen die Spielpraxis genommen ist, weil sie nicht in unserer U23 spielen können, weil die Oberliga ja im Lockdown ist. Dort hatten einige schon die Chance sich zu zeigen, unsere Trainer haben das im Blick. Beim Spiel der U23 in Eichede war zum Beispiel unser gesamtes Trainerteam vor Ort. Das kriegen die Spieler natürlich mit, sehen, dass man sich für sie interessiert, dass sie immer auf dem Zettel sind. Und wenn trotzdem einer unruhig wird? Erstmal ist es so, dass unsere Trainer sich mit jedem individuell beschäftigen, immer wieder persönlich motivieren. Da ist Rolf ganz stark drin, aber auch unser Co-Trainer Lukas Pfeiffer macht das klasse, obwohl er erst 29 Jahre alt ist. Aber wenn es trotzdem Spieler gibt, die unzufrieden sind, dann sind wir gesprächsbereit, wenn sie den Verein wechseln wollen. Denn auch das möchte ich klar sagen: Der Kader wird im Winter nicht mehr größer, wir werden da nichts machen. Neuzugänge kann es bestenfalls geben, wenn uns noch Spieler verlassen sollten. Sie sind nicht nur Sportdirektor sondern auch Nachwuchschef beim VfB, passt das zusammen? Ja, ich finde schon. Durchlässigkeit ist für uns ja ein wichtiges Thema, da ist es doch gut, wenn man beide Seiten kennt. Ich habe mich zum Beispiel dafür ausgesprochen, dass künftig zwei Kaderplätze in der Liga an eigene Nachwuchsspieler vergeben werden. Wir machen Fortschritte, haben eine durchgehende Spielphilosophie entwickelt, bieten Fördertraining an und haben uns einen Verhaltenskodex gegeben. Wir haben unser Trainerteam bei den Hansekickern noch kompetenter aufgestellt, wir haben die Trainingsbedingungen gerade erheblich verbessert. Und wir spielen mit den C- bis A-Junioren in der Regionalliga. Wir brauchen auch die U23 auf möglichst hohem Niveau, auch wenn andere Klubs sie längst nicht mehr haben. Ich sage, der Schritt von U19 direkt in die 3. Liga, das geht in der Regel nicht. Ein U19-Spieler braucht ein, zwei Jahre, um sich an den Männerfußball zu gewöhnen. Was bereitet ihnen Sorgen in dem Bereich? Das Projekt Zukunft des DFB befördert eine Entwicklung, dass im Nachwuchsbereich nur noch die Nachwuchsleistungszentren in den Jugend-Bundesligen mit einander messen werden. Klubs wie wir wären dann raus. So können wir natürlich unsere besten Talente nicht halten im VfB. Die Jungs werden uns scharenweise abgeworben. Gerade hat uns erst wieder ein Zweitligist informiert, dass er sieben Jungs aus unserer C-Jugend ansprechen will. Dem müssen wir entgegenwirken, darum brauchen wir unser Nachwuchsleistungszentrum, für das es ja auch ganz konkrete Pläne gibt. Allerdings ist die Finanzierung eines solchen Projekts in Corona-Zeiten nicht leichter geworden. Welche Ziele – außer NLZ – streben Sie noch an? Wir wollen beim VfB ein Topsportklima etablieren. Wir wollen die Bedingungen für alle Spieler aber auch für alle Teams hinter den Teams, von den Trainern bis zu den Platzwarten, verbessern. Wir wollen uns alle in Ruhe austauschen – immer kritisch, aber immer konstruktiv und sachlich, nie persönlich werdend. Im Team eben. Dabei steht der VfB über allem. Und: Wir wollen und werden die 3. Liga halten, davon bin ich überzeugt. Von Jürgen Rönnau