Überstunden gegen den Fachkräftemangel? Das muss nicht sein
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Weil die Wirtschaft durch hohe Krankenstände und fehlende Arbeitskräfte belastet ist, wurden zuletzt Forderungen nach Mehrarbeit und längeren Arbeitszeiten laut. Aus gesundheitlicher Sicht spricht jedoch wenig dafür (Symbolbild).
© Quelle: Sven Hoppe/dpa
In Großbritannien läuft aktuell ein groß angelegter Modellversuch: 3300 Beschäftigte aus 70 Unternehmen in allen möglichen Branchen arbeiten nur noch vier Tage in der Woche, von Montag bis Donnerstag. Das Gehalt bleibt unverändert. Auch die Leistung der Beschäftigten soll möglichst nicht sinken. Einzelne Firmen berichten bereits, dass die Produktivität ihrer Angestellten seit Beginn des Experiments sogar gestiegen ist.
Die Soziologin und leitende Wissenschaftlerin des Projekts, Juliet Schor, bezeichnet das als einen „historischen Versuch“. „Wir werden analysieren, wie Mitarbeiter auf einen zusätzlichen freien Tag reagieren, in Bezug auf Stress und Burn-out, Arbeits- und Lebenszufriedenheit, Gesundheit, Schlaf, Energieverbrauch, Reisen und viele andere Aspekte des Lebens“, sagte sie dem „Guardian“. Der Versuch läuft über einen Zeitraum von sechs Monaten.
Wirtschaftsvertretende fordern 42-Stunden-Woche
Stress, Burn-out und andere Gesundheitsrisiken im Beruf sind natürlich kein britisches Problem. Auch in Deutschland haben die Belastungen zugenommen. Die lange Pandemiezeit, die Corona-Sommerwelle und zuletzt die Hitzewelle haben viele Beschäftigte an ihre Grenzen gebracht. Die derzeit hohen Personalausfälle verschärfen den Fachkräftemangel weiter. Laut der Krankenkasse BKK ist der Krankenstand seit Auslaufen der meisten Corona-Maßnahmen deutlich angestiegen. Die Zahl der Fehltage liegt weit über den Vergleichswerten aus dem Vorjahr.
Ein Arbeitsmodell, das die Gesundheit der Arbeitnehmenden schützt und zugleich ihre Zufriedenheit, aber auch ihre Produktivität verbessert, käme also auch hierzulande gelegen. Die Erfahrungen in Großbritannien, aber auch in anderen Ländern wie Island, Belgien, Schottland oder Spanien, die vergleichbare Modelle getestet haben, zeigen: Eine Reduzierung der Arbeitszeit dient nicht nur den Beschäftigten, sondern auch den Interessen der Unternehmen.
Studien deuten auf hohe Gesundheitsrisiken hin
In Deutschland deuteten Forderungen aus Wirtschaft und Politik zuletzt jedoch in eine andere Richtung. So sprach sich der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, für eine 42-Stunden-Woche aus. Das forderte zuvor bereits Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner schlug vor, der drohenden Wirtschaftskrise mit „mehr Überstunden“ zu trotzen. Nur so könnten wir unseren Wohlstand sichern, twitterte er. Bereits jetzt leisten 4,5 Millionen Menschen in Deutschland Überstunden, wie jüngst eine Auswertung des Statistischen Bundesamts zeigte.
Für den Organisationspsychologen Roman Briker kommen solche Forderungen nicht überraschend. Briker forscht an der Universität Maastricht zum Thema Zeit. „Die Forderungen von Christian Lindner und Siegfried Russwurm sind typische menschliche Reaktionen, wenn Zeitdruck oder Stress existieren. Studien legen nahe, dass Menschen in solchen Situationen versuchen mehr zu arbeiten, um vermeintlich Projekte oder Aufgaben besser erledigen zu können“, sagt er. Tatsächlich seien längere Arbeitszeiten aber vor allem langfristig kontraproduktiv, weil sie sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit auswirkten.
„Eine Reihe von Metaanalysen zeigt, dass längere Arbeitszeiten unter anderem mit Gewichtszunahme einhergehen und zu mehr Herzinfarkten und Schlaganfällen führen“, so der Forscher. „Darüber hinaus leidet auch die Psyche stark unter – auch nur leicht – steigenden Arbeitszeiten. Eine Vielzahl von Studien führt unter anderem ein allgemeines geringeres psychisches Wohlbefinden, höhere Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von Depressionen und Alkoholsucht als Auswirkungen an.“
Längere Arbeitszeiten sorgen für Beziehungskonflikte
Diese Effekte gingen sogar über die eigene Person hinaus, sagt Briker. Er verweist dazu auf eine vor Kurzem durchgeführte Metaanalyse von US-amerikanischen Forscherinnen und Forschern. Die Studie zeige, dass längere Arbeitszeiten eines Partners die Konflikte und Streitigkeiten in der Beziehung signifikant erhöhen. Man könne zwar nicht alle Arbeitnehmenden über einen Kamm scheren. Die Folgen unterscheiden sich nach Berufen, Altersgruppen, Geschlechtern und anderen Merkmalen, so Briker. Auch gebe es einige methodische Probleme in der Forschung wie etwa eine Häufung von rein korrelativen Querschnittsstudien. „Das Gesamtbild jedoch deutet sehr stark darauf hin, dass längere Arbeitszeiten immensen Schaden in der Bevölkerung anrichten könnten“, sagt Briker.
Er rät dazu, langfristigere Lösungen für den Fachkräftemangel und die aktuellen Krisensituationen in Betracht zu ziehen. Die Modellversuche in anderen europäischen Ländern liefern bereits jetzt zahlreiche Belege, dass flexible Arbeitsmodelle mit kürzeren Arbeitszeiten langfristig die beste Lösung darstellen könnten – und zwar für alle Seiten.
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