Der Fall Till Lindemann
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© Quelle: LN
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
selbst wenn man der brachialen Art, wie „Rammstein“ Musik macht, schon immer kritisch gegenüberstand: Das, was über die international wohl erfolgreichste Band Deutschlands in den vergangenen Tagen berichtet wurde, macht mich sprachlos. Auf ihren Konzerten sollen systematisch Frauen für Sex mit Frontmann und Sänger Till Lindemann ausgewählt worden sein. Mehr als ein Dutzend Frauen wandten sich an den NDR und die Süddeutsche Zeitung. Teilweise sollen K.O.-Tropfen im Spiel gewesen sein, sodass sich einige von ihnen nicht mehr wirklich erinnern konnten, was passiert ist. Dafür hatten sie nach eigenen Angaben hinterher blaue Flecken oder bluteten.
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten: Es geht nach wie vor um Vorwürfe und um Verdachtsberichterstattung. Till Lindemann ist wegen keinem der Vorfälle angeklagt, die Band hatte in zwei Stellungnahmen versichert, dass sie die Vorwürfe sehr ernst nehme und dass ihnen keine behördlichen Ermittlungen bekannt seien. Inzwischen lässt „Rammstein“ die Vorwürfe von einer bekannten Medienkanzlei zurückweisen.
Gleichzeitig haben etwa die Frauen, mit denen der NDR und die SZ gesprochen haben, ihre Aussagen per Eidesstattlicher Versicherung bestätigt. Das hält die Fans von „Rammstein“ nicht davon ab, ihre Idole mit teils wüsten Beschimpfungen gegen diese Frauen zu verteidigen. Aber mit ihren Argumenten wie „Sie hätten Nein sagen können“ oder „Es ist doch bekannt, was auf Aftershowpartys passiert“, machen sie es sich viel zu einfach. Die Verantwortung für solche Vorfälle wird damit auf die mutmaßlichen Opfer übertragen. Das Machtgefälle, das zwischen dem Star und einem Fan besteht, wird dabei außer Acht gelassen. Stattdessen könnte man auch von einem 60-jährigen Weltstar einfordern, dass er die Verantwortung für sein Verhalten übernimmt und Konsequenzen zieht - sollten die Vorwürfe der Wahrheit entsprechen.
„Die Frauen gehen mit diesen Anschuldigungen nur an die Öffentlichkeit, um ihre fünf Minuten Ruhm abzugreifen“, ist noch so eine beliebte Erwiderung. Aber ist Ruhm wirklich das, was diese Frauen erwartet, wenn sie solche Vorwürfe publik machen? Stattdessen schlägt ihnen gerade im Netz doch vor allem Häme, Hass und Hetze entgegen. Diese frauenfeindlichen Reaktionen machen mir, unabhängig von diesem konkreten Fall, so gar keine Hoffnung, dass wir irgendwann an einem Punkt sind, an dem sexualisierte Gewalt zuverlässig aufgeklärt wird.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende!
Sophie Schade
Chefin vom Dienst
Interview der Woche
Bäckermeisterin Jana Klausberger (32) aus Eutin betreibt mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Bruder die letzte produzierende Bäckerei in Eutin. Die neue Generation möchte den Betrieb jetzt zu einer Genossenschaft umwandeln. Im Gespräch geht es um Frauen im Handwerk und was sich hier verbessern muss.
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Jana Klausberger wünscht sich, dass die Bäckerei, die ihre Großeltern 1978 gründeten, noch lange existieren wird.
© Quelle: Ulrike Benthien
Wie sind Sie in die Position gekommen, in der Sie heute sind?
Naja, ich arbeite ja in der Bäckerei, die noch von meinen Eltern geführt wird. Ich habe aber vor meiner Ausbildung zur Bäckerin viele andere Sachen gemacht. Ich habe einen Bachelor in Kulturarbeit. Dann wollte ich doch noch ein Handwerk lernen, und außerdem fand ich es gut, als Frau in einen männerdominierten Beruf zu gehen. Als dann die Unternehmensnachfolge in der Bäckerei dringender wurde, haben ein paar Freund*innen und ich entschieden, dass wir die Bäckerei als Genossenschaft weiterführen wollen.
Wann waren Sie zuletzt die einzige Frau in der Runde?
Das versuche ich zu vermeiden. Ich suche oder schaffe mir Räume, in denen nicht nur Männer präsent sind und ich mich mit anderen FLINTAs (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen, Anm. d. Red.) verbünden kann.
Gibt es Sprüche, die Sie nicht mehr hören können, weil sie voller Klischees sind?
Na klar. Alle Sprüche, die mit „Männer sind so…“ oder „Frauen sind so…“ anfangen. Geschlecht ist konstruiert. Wohl gemeinte aber schlecht überlegte und nicht erbetene Ratschläge nerven mich auch extrem.
Wie hat sich die Arbeit im Handwerk in den vergangenen Jahren für Frauen verändert?
Meine Mutter ist ja schon seit über 40 Jahren Bäckerin. Viel verändert hat sich da zumindest in alteingesessenen Betrieben aus meiner Perspektive nicht. Es gibt aber durchaus neue Handwerksunternehmen und Bäckereien, die versuchen Dinge anders zu machen.
Vor welchen Herausforderungen stehen Handwerkerinnen/Bäckerinnen heutzutage?
Ich kann nicht für das ganze Handwerk sprechen. Ich glaube nicht, dass Frauen im Handwerk oder in Bäckereien vor anderen Herausforderungen stehen als in anderen Berufen. Sexismus und Misogynie gibt es leider überall. Der körperlichen Belastung im Handwerk allgemein und zusätzlich durch die Nachtarbeit für viele Bäcker*innen begegnen aber alle. Viele Männer haben da nur lange gelernt, dass es zum Mann sein angeblich dazu gehört, die Zähne zuzubeißen. Das ist natürlich Quatsch. Da müssen wir gute Lösungen für alle finden.
Was raten Sie jungen Frauen, die mit dem Gedanken spielen, ein Handwerk zu lernen?
Probiert euch aus. Sucht euch am Besten coole Betriebe, mit Menschen, die ihr interessant findet und von denen ihr was lernen wollt. Kollektivbetriebe oder von Frauen geleitete Betriebe sind häufiger schon sensibilisiert für verschiedene Machtverteilungen und Diskriminierungsformen. In Berlin gibt es zum Beispiel den Verein Baufachfrau für Frauen in Bauberufen oder den Feminist Food Club für FLINTA in der Gastronomie-Branche.
Wer ist Ihr Vorbild, Ihre Inspiration?
Ich bewundere sehr Monika Walecka, eine Bäckerin aus Warschau, die eine fantastische Bäckerin und Unternehmerin ist. Außerdem die Musikerin Lizzo. Sie schafft es bad-ass und zärtlich gleichzeitig zu sein und ist dabei auch noch humorvoll und sexy.
Was sind Ihre Wünsche und Ziele für die Zukunft?
Erstmal, dass wir die Genossenschaft auf gute Beine stellen und dass viele Menschen Lust haben dabei zu sein und mitzumachen. Und dann natürlich in kleinen Schritten aber hartnäckig das Patriarchat zu zerstören.
Der Fall Till Lindemann
Wurden im Vorfeld von Rammstein-Konzerten gezielt junge Frauen für Partys und Sex mit Frontmann Till Lindemann gecastet? Mehrere Frauen erheben diese Vorwürfe und sprechen auch von Drogen, K.-o.-Tropfen und Alkohol. Die Band dementiert, doch erste Folgen spürt Rammstein bereits.
Nach den Anschuldigungen gegen Till Lindemann ändert sich auch der Blick auf die Rammstein-Songs. Was geschieht jetzt mit der Band, deren Geschäftsmodell die Provokation war und bei der jetzt alles auf dem Spiel zu stehen scheint?
Tagelang schwieg die Band zu den Vorwürfen, nun hat sich Rammstein zu den Vorwürfen gegen Till Lindemann geäußert. Über Instagram teilte die Band mit, dass sie die Vorwürfe ernst nehme. Zugleich forderte die Gruppe aber dazu auf, von Vorverurteilungen abzusehen – in doppelter Hinsicht.
Der Rammstein-Sänger Till Lindemann soll laut Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung junge Frauen für Sex rekrutiert haben. Mehrere junge Frauen erheben schwere Vorwürfe. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat Konsequenzen gezogen und die Zusammenarbeit beendet.
Das direkte Umfeld von Rammstein hat sich umfangreich zu allen Vorwürfen um Frontmann Till Lindemann geäußert. Die Sexpartys gehören demnach seit mindestens vier Jahren zum Tourprogramm. Die Band will gemeinsam durch die Krise kommen. Bei den Konzerten in München wird auf Partys verzichtet.
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