Auf Wiedersehen, Corona-Maske: ein Abschiedsbrief
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Die Maske fällt nun auch an den letzten Orten.
© Quelle: Oliver Berg/dpa
Sehr geehrte Corona-Maske,
am 17. April 2020 saß ich am späten Abend in einem Keller in Norddeutschland. Neben mir, an ihrer Nähmaschine, saß eine Mutter von drei Kindern. Sie nähte nachts Exemplare von Dir. Bunte Masken. Außen aus Baumwolle, innen aus Moltonstoff, waschbar bei 90 Grad. „Ich brauche 14 Minuten pro Maske, inklusive Zuschnitt“, sagte sie. Viele Masken spendete sie. Denn Du, Corona-Maske, warst Mangelware, damals. Bis zu 300 Euro verlangten windige Abzocker bei Ebay für einen einzigen „Mund-Nasen-Schutz“. „Ich sitze hier teilweise bis halb eins nachts und nähe morgens um sieben weiter“, sagte die Maskendesignerin. „Und ich bin nicht allein.“ Das Rattern der Nähmaschinen war der Soundtrack der ersten Coronawochen. Neben „Der Mond ist aufgegangen“.
Maskenpflicht endet heute in allen Bussen und Bahnen
Parallel dazu wird die Vorschrift in den übrigen neun Bundesländern aufgehoben, in denen sie im Regionalverkehr bisher noch galt.
© Quelle: dpa
Das war damals, vor unendlich langer Zeit, als wir noch Regenbögen malten und in die Fenster stellten. Als Kinder beim Händewaschen zweimal „Happy Birthday“ sangen und in aufgemalten Kreisen auf Schulhöfen standen. Als Paare sich durch Plastikplanen umarmten. Als noch kein Mensch wusste, was „FFP2″ bedeuten soll. Oder „Reproduktionswert“. Oder „Superspreader-Event“.
Ein Alltagsobjekt verabschiedet sich
Und nun, Corona-Maske, nach gut drei Jahren, ist unsere Beziehung zu Ende. Zumindest endet die bundesweite Pflicht, Dich zu tragen. Du bist das Symbol einer Menschheitskrise. Du gehörtest zum Alltag: Schlüssel, Portemonnaie, Handy, Maske. Erst warst Du gar nicht lieferbar, dann in ungeheuren Massen: Im Vor-Corona-Jahr 2019 gab die ganze Welt gerade zwölf Milliarden Dollar für Masken aller Art aus. 2020 und 2021 waren es dann jeweils 400 Milliarden Euro. Das Dreißigfache. Du hast Billionen von Geschwistern, Corona-Maske. Sie liegen auf Müllhalden und Gehsteigen, an Stränden, in Gleisbetten und (noch) in Handschuhfächern und kleinen Kisten im Hausflur.
Du bist die Ikone einer seltsamen, lauten, leisen, kaputten, anstrengenden Zeit, die damit begann, dass wir uns unbeholfen und fahrig den Händedruck zu verweigern übten, noch neu in der Kunst des Nichtanfassens. Fist Bump? Das war etwas für Rapper und Barack Obama. Aber Du warst eben das Mittel der Wahl gegen diesen vermaledeiten Eindringling, der sich in unsere Körper und Seelen einnistete und uns bedrohte, diesen ungebetenen Gast, der nicht mal ein richtiges Lebewesen ist und bitte in Deinem Zellstoff hängen bleiben sollte, bevor er Schaden anrichten konnte. 120 Millionstel Millimeter klein ist dieses noch immer ziemlich ätzende Virus, sein Radius tausendmal dünner als ein menschliches Haar, es ist ein erbärmlicher Klumpen Nichts, ein submikroskopisches Konglomerat aus Biomolekülen, gegen das über Monate vor allem eines half: Du.
Die Angst, Nähe verlernt zu haben
Du und das Virus – ihr habt uns knapp drei Jahre schmerzvoll daran erinnert, dass der menschliche Körper zwar ein unvorstellbar kraftvolles Wunderwerk, gleichzeitig aber auch ein kränkelndes Mirakel ist. Für eine Spezies, die drei Milliarden Jahre Evolution hinter sich hat, haben wir erstaunliche Baumängel. Alle Coronaviren auf der Erde zusammen passen in eine Coladose, hat die Wissenschaft errechnet. 160 Milliliter Giftbrühe. Ein kleiner, tödlicher Cocktail. Er hat uns als Menschen schneller auseinandergetrieben als eine Löwin die Gazellen. So weit auseinander, dass wir Angst haben mussten, Nähe verlernt zu haben.
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Es scheint Jahrzehnte her, aber es lag ja tatsächlich ein Gefühl von Zusammenhalt in der Luft, bevor uns der Streit über Sinn und Unsinn der Coronabekämpfung entzweite. Die ersten, bunten Stoffmasken waren das Sinnbild dieser Zeit. Als dann medizinische Masken Pflicht wurden, kippte parallel die Stimmung. Ein Vegankoch drehte durch. Ein Schlagersänger folgte. Eine Pandemie des Zorns begleitet seither Dich und das Virus. Je komplexer die Zeiten, desto irrealer die Erklärungsmuster.
Die Maske - ein Maulkorb?
Manche hielten Dich für eine Zumutung, Maske. Für einen Maulkorb. Für eine Disziplinierungsmaßnahme eines übergriffigen Staates. Die meisten freilich fanden, dass eine solche Zumutung zumutbar sei in unzumutbaren Zeiten. Einig war man sich darin: dass man in der Tat an mancher politischen Entscheidung verzweifeln konnte (frisch gekauftes Eis bitte nur kurz „anlecken“, weißt Du noch?). Und dass Du, Maske, uns ausgerechnet bei dem behindertest, was uns als Menschen ausmacht: Atmen, Sprechen, Singen. Dafür hast Du, davon darf man ausgehen, sehr vielen Menschen das Leben gerettet.
Prävention ist immer unpopulär. Prävention heißt: Richtlinien, Empfehlungen, Verbote, Strafen. Aber ein Schaden, der nie eingetreten ist, weil er rechtzeitig verhindert wurde, ist eben unsichtbar. Die Politik hat damit begonnen, zerknirscht die eine oder andere Fehlentscheidung zu bedauern. Die strengen Ausgangsregeln. Die Schul- und Kitaschließungen. Die Maskenpflicht freilich gehört zu den Maßnahmen, die noch am breitesten akzeptiert wurden. Inzwischen aber, Maske, ist es Zeit, Dich zum freiwilligen Accessoire zu erklären. Wie eine Sonnenbrille oder ein Schal.
Du wirst niemals wieder ganz verschwinden aus unserem Alltag, Maske. Menschen werden sich aus freien Stücken für Dich entscheiden. Denn Du hilfst ja weiterhin gegen allerhand Übel. Aber dass wir unsere Gesichter wieder sehen können, ist gut. Dass ein Stück Vor-Corona-Normalität zurückkehrt, ist gut. Dass wir mit faltbaren „Kaffeefilter“-Masken nicht mehr aussehen wie eine Eule aus einem Cartoonfilm, ist gut. Und dass Du und die meisten Deiner Geschwister jetzt auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, ist gut.
Es gibt Abschiede, die schmerzen. Dieser nicht.
Auf Wiedersehen, Corona-Maske.
Imre Grimm