„Die Devise ‚sehr viel hilft viel‘ gilt bei den Impfungen nicht“

Alle drei Monate gegen Corona impfen lassen: Ist das gefährlich?

„Impfaktion im Großen Lindensaal“ - Hauptpreis in der Kategorie „Presse“ für Jan Woitas (dpa): Eine Frau wird in einem durch das Deutsche Rote Kreuz eingerichteten mobilen Impfzentrum im Großen Lindensaal im Rathaus gegen Covid-19 geimpft. In zwei Aktionen wurden und werden hier bisher über 2300 Einwohner geimpft.

Eine Frau wird in einem vom Deutschen Roten Kreuz eingerichteten mobilen Impfzentrum im Großen Lindensaal im Rathaus von Markkleeberg gegen Covid-19 geimpft.

Der Entwurf zum neuen Infektionsschutz­gesetz sorgt für Verwirrung. Vor allem eine Frage steht im Raum: Muss man sich jetzt alle drei Monate gegen Covid-19 impfen lassen? Hintergrund sind die Ausnahme­regelungen für frisch Geimpfte und Genesene, die der Gesetzesvorschlag von Bundesgesundheits­minister Karl Lauterbach (SPD) und Bundesjustiz­minister Marco Buschmann (FDP) vorsieht. Wer vor maximal drei Monaten zuletzt gegen Covid-19 geimpft wurde, muss in Restaurants und Bars keine Maske tragen oder einen negativen Test vorweisen. Die Ausnahme von der Testpflicht gilt auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Nach Informationen des Redaktions­Netzwerks Deutschland (RND) soll es sich hierbei um eine Kann-Regelung handeln – das heißt, die Bundesländer können von den Ausnahmeregelungen Gebrauch machen, müssen es aber nicht.

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Die Annahme, die diesen Regelungen zugrunde liegt, ist: Wer frisch geimpft ist, hat ein geringes Risiko, sich selbst und andere anzustecken. Deshalb ist es in Ordnung, wenn diejenigen keine Maske tragen und sich nicht testen lassen. Immunologe Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover hält das für falsch. „Es gibt momentan nur sehr wenige Anhaltspunkte, dass eine frische Impfung tatsächlich vor erneuter Ansteckung schützt“, sagt er dem Redaktions­Netzwerk Deutschland. Studien hätten teilweise zwar gezeigt, dass es einen gewissen Schutz vor Reinfektionen sechs bis acht Wochen nach der Impfung gebe, aber der Effekt sei grundsätzlich „eher gering“.

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Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie rät dringend davon ab, sich alle drei Monate gegen Covid-19 impfen zu lassen, um von den Ausnahme­regelungen zu profitieren. „Das ist ein immunologischer Blindflug“, macht er deutlich. „Wir wissen überhaupt nicht, was dann passiert. Man geht hier ein Risiko ein, das man momentan überhaupt nicht einschätzen kann.“

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Das kann bei zu schnell wiederholtem Boostern passieren

Es gibt unterschiedliche Szenarien, wie sich wiederholte Impfungen in kurzen Zeitabständen auf das Immunsystem auswirken könnten.

Das erste wäre: Die Impfungen helfen jeweils dabei, die Immunantworten zu verbessern, mit der Zeit lässt ihre Wirkung jedoch wieder nach. Immunologe Förster beschreibt dies als „Sägeblatt-Verlauf“. Erst steigt der Schutz vor Infektionen, schwerer Erkrankung und Tod, dann nimmt er wieder ab.

Möglichkeit Nummer zwei wäre schlimmer: Es entsteht eine T‑Zell-Anergie. T‑Zellen sind ein Teil der menschlichen Immunabwehr. Sie erkennen das Coronavirus anhand seines Antigens, des Spikeproteins, und bekämpfen es direkt in den infizierten Zellen. Die Antigene sind auch in den Impfstoffen enthalten. Lassen sich nun Menschen innerhalb kurzer Zeit mehrfach gegen Covid-19 impfen, wird dabei jedes Mal den T‑Zellen das Spikeprotein präsentiert. Das könnte dazu führen, dass die T‑Zellen irgendwann nicht mehr auf den Erreger reagieren. Es entsteht eine Anergie, Immunreaktionen bleiben aus.

Oder, das ist Variante Nummer drei, es kommt zu Autoimmun­erkrankungen – ausgelöst durch eine Überaktivität des Immunsystems. Die Folge wäre, dass die Abwehrkräfte des Körpers eigenes Gewebe angreifen. Das Immunsystem kann nicht mehr unterscheiden zwischen „körpereigenen“ und „fremden“ Strukturen.

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Zu früh nachzuimpfen reduziert Impfstoff­wirksamkeit

„Wiederholte nutzlose ‚blinde‘ Booster haben mehrere Risiken“, sagte auch Andreas Radbruch, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrum Berlin (DRFZ), Ende Juli gegenüber dem Science Media Center (SMC). „Das angeborene Immunsystem aus Fresszellen und Granulozyten (weiße Blutkörperchen, die Krankheitserreger angreifen, Anm. d. Red.) wird ‚trainiert‘ und reagiert.“ Lokale und systemische Nebenwirkungen könnten die Folge sein. „Nicht auszuschließen ist auch, dass das Immunsystem bei einzelnen Geimpften gegen andere Komponenten des Impfstoffs als das kodierte Spikeprotein reagiert, dass also Unverträglichkeiten für zukünftige Impfungen mit ähnlich aufgebauten Impfstoffen entstehen“, so Radbruch weiter.

Eigentlich bräuchte es groß angelegte klinische Studien, um die Wirkung von wiederholten Boostern in zeitlich kurzen Abständen beurteilen zu können, meint Immunologe Förster. Er rät, lieber die von der Ständigen Impfkommission (Stiko) vorgeschriebenen Impfabstände einzuhalten. Zwischen der ersten und der zweiten Auffrischungsimpfung wären das mindestens sechs Monate. So lässt sich sicherstellen, dass die Impfungen den bestmöglichen Nutzen bringen.

Denn zu früh nachzuimpfen kann sich auf die Effektivität der Impfstoffe auswirken. „Noch vorhandene Antikörper fangen den Impfstoff dann unter Umständen so effizient weg, dass nur eine geringe erneute Aktivierung des immunologischen Gedächtnisses stattfindet“, erklärte Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich. Ihm sind wiederum keine immunologischen Risiken wiederholter Booster bekannt. „Die Immunität gegen einen Erreger oder eine Impfung ist im Allgemeinen ‚gedeckelt‘“, sagt er. „Es gibt auch Einzelfälle, die sich zahlreiche Male gegen Covid-19 haben impfen lassen. Selbst in diesen Einzelfällen sind keine starken Nebenwirkungen bekannt.“

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Wie viele Auffrischungs­impfungen gegen Covid-19 noch notwendig sein werden, können Fachleute nicht sagen. Das hängt auch davon ab, wie sich das Coronavirus weiterentwickelt, ob es noch ansteckendere, krankmachendere und immunflüchtigere Virusvarianten hervorbringt – und wie gut die Impfstoffe dann gegen diese Versionen des Erregers wirken. Immunologe Förster hält es durchaus für denkbar, dass Risikogruppen künftig jedes Jahr ihre Impfung gegen Covid-19 auffrischen lassen müssen. Er stellt jedoch klar: „Die Devise ‚sehr viel hilft viel‘ gilt bei den Impfungen nicht.“

 

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