Medizinischer Fortschritt: Können Gentherapien Erbkrankheiten und Krebs heilen?

Der dreijährige Donovan Weisgarber leidet an einer spinalen Muskelatrophie.

Der dreijährige Donovan Weisgarber leidet an einer spinalen Muskelatrophie.

Langen/Hamburg. Jahrzehntelang machte die Entwicklung von Gentherapien ein Auf und Ab durch. Auf hohe Erwartungen folgten Rückschläge. Doch seit etwa zehn Jahren versprechen gentherapeutische Ansätze zunehmend, die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. „Inzwischen sehen wir zum Teil spektakuläre Erfolge“, sagt Boris Fehse vom Hamburger Uniklinikum Eppendorf, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie (DG-GT). „Das Behandlungsspektrum wird sich ausweiten.“

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Seit 2016 wurden in Europa und den USA sechs Gentherapeutika zugelassen

Den aktuellen Stand stellten Katherine High vom Pharmaunternehmen Spark Therapeutics in Philadelphia und Maria Roncarolo von der kalifornischen Stanford University im August im „New England Journal of Medicine“ vor: Seit 2016 wurden demnach in Europa und den USA sechs Gentherapeutika zugelassen: zwei gegen Krebs, vier gegen monogene Erbkrankheiten wie Beta-Thalassämie, spinale Muskelatrophie (SMA), Netzhautleiden und den angeborenen Immundefekt SCID (schwerer kombinierter Immundefekt). „Gentherapie bietet Behandlungsoptionen für Erkrankungen, die außerhalb der Reichweite traditioneller Verfahren liegen“, schreiben die Forscherinnen.

Gentherapie bietet Behandlungsoptionen für Erkrankungen, die außerhalb der Reichweite traditioneller Verfahren liegen.

Katherine High und Maria Roncarolo

im „New England Journal of Medicine“

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Ein Rückblick: Seit den 1960er-Jahren hoffen Forscher, Defekte, die auf einzelnen Genen basieren, zu beheben und so Erbkrankheiten nicht nur zu lindern, sondern zu heilen. Schon in den 1970er-Jahren folgen – auch in Deutschland – teilweise abenteuerliche Versuche an Menschen, die meist erfolglos bleiben. Noch Ende der 1990er-Jahre beklagt der US-Gentherapie-Pionier William French Anderson, „dass auf der klinischen Ebene nichts wirklich funktioniert“.

Gentherapie: Manche Versuche endeten tödlich

Manche Versuche enden tödlich. Aufsehen erregt der Fall des Amerikaners Jesse Gelsinger, der an einer erblich bedingten Stoffwechselstörung der Leber leidet. Ihm fehlt das Enzym Ornithin-Transcarbamylase. Am 13. September 1999 spritzen ihm Ärzte der University of Pennsylvania Adenoviren als Genfähren in die Leber, die Informationen für den Bau des Enzyms tragen. Doch das Immunsystem des 18-Jährigen reagiert über, vier Tage später stirbt Gelsinger an Multiorganversagen.

Daraufhin stoppt die US-Zulassungsbehörde FDA Gentherapiestudien mit Adenoviren. Etwa zu jener Zeit steigen laut Fehse die letzten Pharmakonzerne aus dem Forschungszweig aus. „Man hatte anfangs sehr viel versprochen“, sagt Fehse. „Aber alles war viel komplizierter, als man dachte.“

Die ersten Erfolge der Gentherapie brachten auch Nebenwirkungen mit sich

Doch etwa ab dem Jahr 2000 verzeichnen Mediziner erste Erfolge: Ärzte heilen Kinder mit den schweren Immundefekten SCID-X1 und ADA-SCID. Allerdings ist der Preis für manche Patienten hoch: Jahre später erkranken einige Kinder an Leukämie – damals eine Nebenwirkung der genetischen Veränderung von Blutstammzellen.

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„Die erste Generation der Genfähren enthielt noch starke Steuerelemente, die benachbarte Gene aktivieren konnten“, erklärt Axel Schambach von der Medizinischen Hochschule Hannover. „Inzwischen setzt man sicherere Genfähren ein. Man hat aus den Nebenwirkungen gelernt, deren Mechanismen entschlüsselt und die Genfähren entsprechend sicherheitsverbessert.“ Die bisherige Nachbeobachtung von sechs bis neun Jahren bei vielen Patienten gebe Anlass zu Hoffnung, für ein abschließendes Urteil sei es aber noch zu früh.

Forscher sind auf weitere Nebenwirkungen vorbereitet

Auf die zweite Nebenwirkung bei manchen Therapien, eine überschießende Immunreaktion, sei man inzwischen vorbereitet, sagt Schambach. Einen solchen Zytokinsturm könne man mit entzündungshemmenden Medikamenten und der kurzen Gabe von Immunsuppressiva kontrollieren. Doch manche Gentherapien haben auch neurologische Nebenwirkungen wie etwa Entzündungsreaktionen des Gehirns, deren Ursachen derzeit noch erforscht werden.

„Einige Probleme der Gentherapie haben wir in den Griff gekriegt“, sagt der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Klaus Cichutek. Das PEI in Langen ist als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel beteiligt an der Bewertung von Nutzen und Risiko bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), wonach die Zulassung von Gentherapeutika durch die Europäische Kommission erfolgen kann. „Man musste zunächst klinische Erfahrungen sammeln, aber wir verfügen inzwischen über ein relativ großes Wissen.“

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Man musste zunächst klinische Erfahrungen sammeln, aber wir verfügen inzwischen über ein relativ großes Wissen.

Klaus Cichutek,

Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI)

Was passiert bei einer Gentherapie?

Die Grundidee der Gentherapie ist ebenso elegant wie simpel: Bei monogenen – durch ein einzelnes Gen verursachten – Krankheiten soll das fehlerhafte Gen durch eine funktionsfähige Sequenz im Erbgut von Körperzellen ersetzt werden. Doch so einfach das Konzept klingt, so kompliziert ist seine Umsetzung.

Grundsätzlich unterscheiden Mediziner zwei Ansätze: ex vivo und in vivo. In beiden Fällen nutzen Ärzte den Umstand, dass Viren in Körperzellen eindringen und ihr Erbgut übertragen können. Um den ursächlichen Gendefekt zu beheben, sollen daher vermehrungsunfähige Viren als Genfähren dienen und das intakte Gen in Körperzellen tragen.

Um Gendefekte zu beheben: Das in-vivo-Verfahren

Bei den In-vivo-Ansätzen verabreichen Mediziner ein fertiges Präparat und verwenden als Genfähren meist Adeno-assoziierte Viren, die keine Krankheit hervorrufen. Als erstes Produkt wurde 2012 in Europa Glybera zur Behandlung der Hyperlipidämie, einer seltenen, schweren Störung des Fettstoffwechsels, zugelassen. Später folgte die Zulassung von Luxturna gegen zwei Augenleiden, die auf einem Gendefekt beruhen und zu Erblindung führen: lebersche kongenitale Amaurose (LCA) und bestimmte Formen der Retinitis pigmentosa (RP). Luxturna wird unter die Netzhaut injiziert.

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Bei dem Ex-vivo-Verfahren wird mit Stammzellen gearbeitet

Die Ex-vivo-Verfahren funktionieren anders: Hier werden Patienten zunächst meist Stammzellen entnommen, aufbereitet und mit einer intakten Version des fehlerhaften Gens versehen. Als Genfähren dienen meist Lentiviren. „Das Arzneimittel ist die genetisch modifizierte Zelle“, erklärt Cichutek.

Eingesetzt wird dieser Ansatz etwa gegen Beta-Thalassämie, eine Erkrankung des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin. Ende November gaben Ärzte der Uniklinik Regensburg bekannt, dass eine solche Therapie bei einer 20 Jahre alten Frau erste Erfolge zeigte. Bei dieser Patientin waren blutbildende Stammzellen im Labor nicht mithilfe von Genfähren bearbeitet worden, sondern mit der Genschere Crispr-Cas 9.

Wenn Kinder aufgrund eines Gendefekts keine Immunabwehr ausbilden

Eingesetzt werden Ex-vivo-Verfahren auch gegen schwere Immundefekte wie SCID-X1. Bei dieser Erbkrankheit bilden Kinder aufgrund eines Gendefekts keine funktionierende Immunabwehr aus. Sie sterben unbehandelt meist in den ersten Lebensjahren an Infektionen. Für Aufsehen sorgte in den 1970er-Jahren in den USA der sogenannte Bubble-Boy David Vetter, der in einem speziellen Zelt von der Außenwelt abgeschirmt wurde, um Infektionen zu verhindern.

Zwar können diese Patienten mit einer Knochenmarktransplantation behandelt werden, doch Forschern zufolge finden in den USA nicht einmal 20 Prozent von ihnen passende Spender. Das Potenzial einer Gentherapie gegen SCID-X1 stellten US-Mediziner im Frühjahr im „New England Journal of Medicine“ vor.

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Auch der „Bubble Boy“ David Vetter bildete aufgrund eines Gendefekts keine funktionierende Immunabwehr aus.

Auch der Bubble-Boy David Vetter bildete aufgrund eines Gendefekts keine funktionierende Immunabwehr aus.

Die Ärzte entnahmen Kindern im Alter von zwei bis 14 Monaten zunächst blutbildende Stammzellen, die sie im Labor durch ein entschärftes Virus mit einer intakten Kopie des defekten Gens versahen. Die reparierten Stammzellen wurden den Kindern dann zurückgegeben. Sie bildeten daraufhin diverse Typen von Immunzellen, darunter T-Zellen, B-Zellen und natürliche Killerzellen (NK-Zellen). Schwere Nebenwirkungen traten im Beobachtungszeitraum von gut 16 Monaten nicht auf.

Gentherapien gegen Krebs: CAR-T-Zell-Therapien

Doch Gentherapien werden nicht mehr nur gegen Erbkrankheiten eingesetzt, sondern als sogenannte CAR-T-Zell-Therapien auch gegen Krebs. Im Sommer 2017 wurde die erste derartige Gentherapie in den USA zugelassen, ein Jahr später folgten zwei Zulassungen in Europa. Die Präparate Kymriah und Yescarta sollen gegen eine Form der akuten lymphatischen Leukämie (ALL) und bestimmte B-Zell-Lymphome (DLBCL und PMBCL) helfen.

Bei CAR-T-Zell-Therapien werden Patienten zunächst T-Zellen des Immunsystems aus dem Blut entnommen. Diese werden dann so verändert, dass sie auf ihrer Oberfläche einen bestimmten Rezeptor tragen: einen chimären Antigen-Rezeptor, kurz CAR. Per Transfusion bekommen die Patienten die CAR-T-Zellen zurück. Im Körper erkennt der Rezeptor die Krebszellen und vermittelt deren Abtötung durch die CAR-T-Zellen.

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Experte bezeichnet die Therapie als „neue Strategie der Krebsmedizin“

Das sei eine neue Strategie in der Krebsmedizin, sagt Cichutek. „Die genmodifizierten Immunzellen verbleiben für Monate im Körper und können jedes Mal angreifen, wenn eine neue Tumorzelle erkannt wird.“ Die Erfolgsraten der CAR-T-Zell-Therapien beziffert Cichutek nach den Ergebnissen klinischer Prüfungen auf etwa 60 bis 80 Prozent. Unklar ist noch, wie lange der Effekt andauert. „Die Therapien werden derzeit weltweit ausgerollt, und diese Daten werden in zwei bis drei Jahren zur Verfügung stehen.“ Allerdings: Eingesetzt werden CAR-T-Zell-Arzneien momentan erst dann, wenn andere Ansätze – sofern es sie überhaupt gibt – versagt haben.

Pharmaunternehmen können an Gentherapien viel verdienen

Für Pharmafirmen sind Gentherapien nicht nur wegen ihrer Erfolge interessant, sondern auch wegen ihrer Preise – oft Hunderttausende Euro pro Behandlung. Derzeit gilt das im Mai in den USA zugelassene Zolgensma zur Behandlung der seltenen spinalen Muskelatrophie (SMA) mit einem Preis von 2,1 Millionen Dollar pro Dosis (1,9 Millionen Euro) als teuerste Arznei der Welt. In der EU ist es bisher nicht zugelassen.

Medikamente könnten schon vor der Zulassung in Deutschland auf den Markt kommen

In Deutschland wurden nach Herstellerangaben dennoch zwei Kleinkinder mit dem Präparat behandelt – bezahlt von gesetzlichen Krankenkassen. Über eine „beispiellose Medienkampagne“ sei auf Kassen und Ärzte erheblicher Druck ausgeübt worden, hieß es kürzlich in einem Brief des Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzten, Kliniken, dem Verband der Universitätsklinika und diversen Kassen an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

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Krankenkassen und Experten befürchten eine Art Nachahmereffekt: Auch andere Medikamente könnten künftig über Umwege schon vor ihrer Zulassung auf den Markt kommen, wird gewarnt. In den USA ist Zolgensma für Kinder bis zwei Jahre seit Mai zugelassen, bis Ende September wurden laut Novartis rund 100 Patienten damit behandelt. Für Deutschland und die EU rechnet Novartis mit 50 potenziellen Patienten und der Zulassung im ersten Quartal 2020.

„Forscher und Anwender sehen die Preisentwicklung mit großer Sorge“

Bezüglich der Kosten gibt PEI-Präsident Cichutek zu bedenken, dass Gentherapien oft eine einmalige Therapie sind, anders als Arzneien, die dauerhaft verabreicht werden müssen. „Damit relativieren sich die Preise.“ Dennoch treibt viele Mediziner die Sorge um, ob die Therapien allen Betroffenen zugutekommen. „Das wird in den Fachgesellschaften stark diskutiert“, sagt Schambach. „Forscher und Anwender sehen die Preisentwicklung mit großer Sorge.“

Dass der Bedarf zusammen mit den Einsatzmöglichkeiten steigen wird, daran zweifelt niemand. „Derzeit sind weltweit etwa 1100 klinische Studien in der Gentherapie aktiv, 350 davon laufen bereits, über 100 davon als Phase-drei-Studien“, sagt PEI-Präsident Cichutek. „Wir erwarten am Paul-Ehrlich-Institut in den nächsten Jahren noch viele Anträge.“

RND/dpa

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