Spinale Muskelatrophie: Darum ist die Krankheit jetzt Teil des Neugeborenenscreenings

Ein paar Tropfen Blut genügen, um bei Neugeborenen seltene angeborene Erkrankungen festzustellen.

Ein paar Tropfen Blut genügen, um bei Neugeborenen seltene angeborene Erkrankungen festzustellen.

Das Neugeborenen­screening soll dabei helfen, seltene angeborene Erkrankungen bei Säuglingen zu entdecken, bevor sie zu Symptomen führen. Dafür nehmen Ärztinnen und Ärzte den Kindern unmittelbar nach der Geburt Blut aus der Ferse ab, das dann in einem Labor auf 15 Krankheiten untersucht wird. Ab heute ist eine weitere Krankheit Teil dieses Screening­verfahrens: die spinale Muskelatrophie (SMA).

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Was ist die spinale Muskelatrophie?

Bei der SMA handelt es sich um eine sogenannte Motoneuron­krankheit, also um eine Erkrankung der motorischen Nervenzellen. Diese befinden sich hauptsächlich im Rückenmark und steuern die Bewegung der Muskulatur. „Wenn wir eine Bewegung machen, sind daran die Motoneuronen beteiligt“, erklärte Prof. Reinhard Dengler, Direktor der neurologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover. „Sie geben das Kommando an die Muskeln.“

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Bei der SMA werden die Nervenzellen irreversibel geschädigt, sodass die Muskeln gelähmt werden und schwinden. Bewegungsabläufe wie kauen oder krabbeln sind dadurch nur noch eingeschränkt bis gar nicht mehr möglich. Intellektuelle Fähigkeiten sind von der Krankheit nicht beeinträchtigt – ebenso Sinneswahrnehmungen wie hören, riechen oder sehen.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM), in der Dengler als Vorstandsmitglied mitwirkt, ist ungefähr eines von 6000 bis 10.000 Neugeborenen von SMA betroffen. In den meisten Fällen wird die Erkrankung im frühen Kindesalter diagnostiziert. Sie lässt sich in vier Schweregrade einteilen, deren Übergänge fließend sind:

  • Typ 1: Die SMA zeigt sich bei den betroffenen Kindern meist im Alter von null bis sechs Monaten. Neugeborene mit diesem Schweregrad können in der Regel nur liegen, aber nicht sitzen. Selbst eine einfache Kopfbewegung ist nicht möglich. Auch haben sie Probleme mit der Nahrungsaufnahme, der Atmung und dem Schlucken. Rund die Hälfte der SMA-Fälle können dem Typ 1 zugeordnet werden. Es ist die schwerste Form der SMA. Die Mehrheit der Betroffenen (rund 95 Prozent) versterbe noch innerhalb der ersten 18 Monate, sagte Prof. Wolfgang Müller-Felber, Spezialist für neuromuskuläre Erkrankungen am Uniklinikum München, bei einer Veranstaltung des Pharmaunternehmens Novartis.
  • Typ 2: Neugeborene mit diesem SMA-Schweregrad können sitzen, aber nur selten stehen. Sie sind mehrheitlich auf einen Rollstuhl angewiesen, um sich fortzubewegen. 95 Prozent der Betroffenen würden zudem eine Skoliose, also eine Verkrümmung der Wirbelsäule, aufweisen, so Müller-Felber. Diagnostiziert wird Typ 2 fast immer vor dem zweiten Lebensjahr.
  • Typ 3: Die SMA tritt bei diesem Typ üblicherweise nach dem 18. Lebensmonat auf, kann sich aber auch erst im frühen Erwachsenenalter zeigen. Die Betroffenen können allein stehen und laufen. Allerdings ist es möglich, dass sie diese Fähigkeit mit dem weiteren Verlauf der Erkrankung verlieren. Ein erstes Anzeichen der fortschreitenden SMA kann beispielsweise sein, dass die Erkrankten beim Laufen sehr oft hinfallen.
  • Typ 4: Diese Form der SMA zeigt sich mehrheitlich nach dem 35. Lebensjahr. Sie ist allerdings seltener als die anderen Formen. „SMA ist eigentlich eine Erkrankung bei Säuglingen und Kleinkindern“, sagte Neurologe Dengler. Die bulbären Muskeln, die für das Schlucken gebraucht werden, sowie die Atemmuskeln seien bei diesem Schweregrad äußert selten betroffen, heißt es auf der Internetseite der Initiative SMA, die innerhalb der DGM angesiedelt ist.
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Was ist die Ursache der spinalen Muskelatrophie?

Damit Motoneuronen Signale an die Muskeln weitergeben können, brauchen sie das Protein Survival Motor Neuron (SMN). Den Bauplan für dieses Protein enthält das SMN1-Gen, das sich auf dem Chromosomabschnitt 5q befindet. Bei der SMA weist das Gen jedoch eine genetische Mutation auf, wodurch es kein SMN-Protein herstellen kann.

Es gibt noch ein weiteres Gen auf dem Chromosomabschnitt 5q, das dem SMN1-Gen zum Verwechseln ähnlich sieht, sich aber in fünf Basen unterscheidet: das SMN2-Gen. Auch dieses produziert das SMN-Protein, aber in geringerer Menge. Besitzt das SMN1-Gen nun einen Gendefekt, reichen die Mengen, die das SMN2-Gen herstellt, meist nicht aus, um die Motoneuronen zu versorgen. Die Nervenzellen sterben ab und leiten keine Signale mehr an die Muskeln, sodass diese schwinden. Der Schweregrad der SMA-Erkrankung hängt unter anderem davon ab, wie viele Kopien des SMN2-Gens auf dem Chromosomabschnitt 5q vorhanden sind. Je mehr Kopien es gibt, desto mehr SMN-Protein kann produziert werden.

Unsere große Hoffnung ist – jetzt, da die SMA ins Neugeborenen­screening aufgenommen wurde –, dass die betroffenen Kinder sofort diagnostiziert werden und eine präsymptomatische Therapie erhalten.

Joachim Sproß,

Bundesgeschäftsführer der DGM

Die SMA ist eine sogenannte autosomal rezessiv vererbbare Erkrankung. Das bedeutet: Es erkranken nur die Kinder an der SMA, die von ihrer Mutter und ihrem Vater jeweils ein fehlerhaftes SMN1-Gen erben. „SMA ist also eine Erbkrankheit“, sagte Dengler. „Die Eltern wissen meist nichts von der Genmutation.“ In den meisten Fällen werden sie erst auf die Krankheit aufmerksam, wenn ihre Kinder Symptome wie eine Muskelschwäche in Armen und Beinen entwickeln.

Warum wird die spinale Muskelatrophie erst jetzt ins Neugeborenen­screening aufgenommen?

In das Neugeborenen­screening aufgenommen werden nur Krankheiten, deren Ursachen behandelbar sind. Eine ursächliche Therapie war bei der SMA lange Zeit nicht möglich. „Die erfreulichen Forschungsfortschritte haben nun zu Therapieoptionen geführt“, sagte Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der DGM. Die Gesellschaft ist Teil der Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss, die die Aufnahme der SMA ins Neugeborenenscreening vorangetrieben hat. „Unsere große Hoffnung ist – jetzt, da die SMA ins Neugeborenen­screening aufgenommen wurde –, dass die betroffenen Kinder sofort diagnostiziert werden und eine präsymptomatische Therapie erhalten“, so Sproß.

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In Norwegen ist die SMA bereits seit Längerem Teil des Neugeborenenscreenings. Länder wie Großbritannien, Spanien oder Italien könnten bald nachziehen. „Ziel muss es sein, möglichst europaweit bald ein Neugeborenenscreening zu etablieren“, sagte der Münchner Neurospezialist Müller-Felber. Vonseiten der Eltern gebe es dafür in jedem Fall eine „ganz hohe Bereitschaft“. Bezahlt wird das Neugeborenenscreening in Deutschland von den Krankenkassen.

Wie lässt sich die spinale Muskelatrophie behandeln?

Egal welche Behandlungsmethode Ärztinnen und Ärzte wählen, wichtig ist, dass sie eine Therapie möglichst frühzeitig beginnen. Unter Neurologinnen und Neurologen kursiert der Spruch „Time is motoneuron“ – was übersetzt „Zeit ist Motoneuron“ bedeutet. Die ersten Symptome würden sich in 15 Prozent der Fälle schon innerhalb der ersten vier Lebenswochen zeigen, sagte Müller-Felber. „Das heißt, wir müssen in dem engen Zeitfenster schauen, dass wir die Kinder sehen, dass wir die Bestätigungsdiagnostik machen und die Therapie einleiten.“

Die Kinder, die mit Zolgensma behandelt werden, erreichen motorische Meilensteine, die sie früher nicht erreicht hätten.

Prof. Reinhard Dengler,

Direktor der neurologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover

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Bislang konnten die Ärztinnen und Ärzte mehrheitlich nur die Symptome ihrer jungen SMA-Patientinnen und ‑Patienten behandeln. Inzwischen gibt es aber auch Medikamente und eine Gentherapie, die im Zusammenhang mit der Motoneuronen­erkrankung zum Einsatz kommen. Öffentliche Aufmerksamkeit hat beispielsweise das Arzneimittel Zolgensma erhalten. Es gilt mit Kosten von knapp 2 Millionen Euro als das teuerste Medikament der Welt. Bei der Gentherapie wird über die Venen ein fehlerfreies SMN1-Gen in die menschlichen Zellen eingeschleust, sodass diese das SMN-Protein in ausreichender Menge herstellen können.

Das Medikament Zolgensma ist seit Mai 2020 in Europa zur Behandlung von SMA zugelassen.

Das Medikament Zolgensma ist seit Mai 2020 in Europa zur Behandlung von SMA zugelassen.

„Es hat einen unglaublichen Effekt, wenn es gleich nach der Geburt angewendet wird, haben Studien gezeigt“, sagte Neurologe Dengler. „Die Kinder, die mit Zolgensma behandelt werden, erreichen motorische Meilensteine, die sie früher nicht erreicht hätten.“ Die Kosten für das Medikament werden in der Regel von den Krankenkassen übernommen. Noch nicht ausreichend erforscht ist jedoch die Langzeitwirkung. Es ist also unklar, ob die 2‑Millionen-Euro-Spritze auch langfristig die Kinder vor Muskelschwächen bewahren kann.

Andere Präparate aktivieren hingegen das SMN2-Gen, sodass dieses ein funktionsfähiges SMN-Protein herstellt. Fachleute sprechen von der sogenannten Splicing-Modifikation. Alle für die SMA in Europa zugelassenen Arzneimittel seien effektiv, machte Dengler deutlich. Er weist jedoch darauf hin, dass es sich bei allen um „relativ neue Therapien“ handelt. Entsprechend fehlen auch bei den Splicing-Modifikation-Präparaten noch ausreichende Langzeitdaten.

DGM-Bundesgeschäftsführer Sproß stellte ferner heraus, dass die Behandlung von SMA eine „sehr komplexe, eingreifende Therapie“ sei. Behandelnde Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten bräuchten also eine hohe Expertise. Um eine gute Versorgung der Patientinnen und Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen zu unterstützen, zertifiziert die DGM sogenannte Neuromuskuläre Zentren in Deutschland. Die fachspezifische Beratung der Eltern nach einer SMA-Diagnose aus dem Neugeborenen­screening erfolgt in zusätzlich gesondert ausgewählten Behandlungszentren.

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Wo können sich SMA-Erkrankte behandeln und beraten lassen?

Behandlungs‑ und Beratungszentren für SMA-Patientinnen und ‑Patienten gibt es deutschlandweit. Eine Übersicht hat die DGM auf ihrer Internetseite veröffentlicht. Die Kosten für die Therapie werden in der Regel von den Krankenkassen übernommen.

Voraussetzung für eine Behandlung sei, dass die SMA bei der oder dem Betroffenen nachgewiesen werden konnte und dass nicht zu viele SMN2-Kopien auf dem Chromosomabschnitt 5q vorhanden sind, erklärte Dengler. „Wenn es viele SMN2-Kopien gibt, könnten die Krankenkassen argumentieren, dass die oder der Erkrankte erst später krank werden könnte und jetzt noch keine Behandlung braucht.“ Sollten aber nicht genügend SMN2-Kopien und ein Gendefekt beim SMN1-Gen vorliegen, müsse möglichst frühzeitig mit der Therapie begonnen werden. Weitere Informationen finden Betroffene auf den Internetseiten der DGM und der Initiative SMA.

In der ursprünglichen Version des Artikels hieß es, dass „eines von sechs bis 10.000 Neugeborenen“ an SMA erkrankt. Richtig ist: „eines von 6000 bis 10.000 Neugeborenen“. Wir haben diesen Fehler am 4. Oktober korrigiert.

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