Elektropop-Ikonen

Depeche Mode nach dem Tod von Andy Fletcher: zu zweit allein

„Der Tod ist präsenter, weil ich das Gefühl habe, im Herbst meines Lebens zu sein“: Songschreiber Martin Gore (links) mit Sänger Dave Gahan.

„Der Tod ist präsenter, weil ich das Gefühl habe, im Herbst meines Lebens zu sein“: Songschreiber Martin Gore (links) mit Sänger Dave Gahan.

Hannover. Der „Black Swarm“, der schwarze Schwarm, jubelt. Depeche Mode haben sich diesen Namen für ihre treuen Fans selbst einfallen lassen. Fans, die gern Schwarz tragen wie die Musiker selbst, die nie genug bekommen und deshalb von Auftrittsort zu Auftrittsort mitreisen. Die Euphorie der 400 Anhängerinnen und Anhänger, allesamt Preisausschreibengewinner, wirkt geradezu heilig. Sie kommen ihren Idolen hier, in der Alten Kongresshalle in München, so nah wie sonst nie.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Depeche Mode geben ein Radiokonzert, um ihr neues Album „Memento Mori“ zu bewerben. Für manche scheint die Popgruppe gar eine Trost und Orientierung bietende Alternativ­religion zu sein, eine Religion im schwarzen Design. Über diese Hingabe, diese tiefe Verbunden­heit mache er sich häufig Gedanken, sagt Martin Gore. „Meine Tochter schenkte mir mal einen lustigen Anstecker, den sie gefunden hatte. Ich habe ihn eine Zeit lang getragen“, erzählt der 61‑Jährige. „Cult Leader“ stand auf dem Ding. Sektenführer.

„Ich bin ein ziemlich schüchterner Mensch“

Gore lacht. Denn der Begriff passt so gar nicht zum Hauptsongschreiber, Gitarristen und Keyboarder der Synthiepopgiganten. „Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin ein ziemlich schüchterner Mensch“, sagt er. „Wenn ich einen Raum betrete, in dem ich nicht viele Leute kenne, kann ich mich ziemlich einsam fühlen.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
„Der Tod ist präsenter, weil ich das Gefühl habe, im Herbst meines Lebens zu sein“: Songschreiber Martin Gore (links) mit Sänger Dave Gahan.

„Der Tod ist präsenter, weil ich das Gefühl habe, im Herbst meines Lebens zu sein“: Songschreiber Martin Gore (links) mit Sänger Dave Gahan.

Der Hintergrund des Interviews ist ernst. Wir sprechen über Tod und Trauer. Gores ältester Freund Andy „Fletch“ Fletcher ist vor nicht einmal einem Jahr an den Folgen einer Aorten­dissektion gestorben. Plötzlich und unerwartet, wie es oft heißt, wenn jemand relativ früh geht; in diesem Fall im Alter von 60 Jahren. Gore und Fletcher kannten sich, seit sie elf waren. Sie gingen in dieselbe Klasse der St. Nicholas Comprehensive School in Basildon nahe London.

Die Songs für das neue Album waren fertig und sollten bald aufgenommen werden. Gore und Sänger Dave Gahan konnten sie Fletch nicht mehr präsentieren. Doch Gahan ist sich sicher, wie dieser reagiert hätte. „Ich kann seine Stimme hören“, erzählte er dem „New Musical Express“. Und diese Stimme fragt: „Muss denn jeder Song vom Tod handeln?“

Andy Fletcher – eine ausgleichende Kraft

Fletcher schrieb keine Songs, und er sang auch nicht. Er spielte Synthesizer. „Manchmal ist es frustrierend, nicht ernst genommen zu werden“, beschwerte er sich 2013 in einem Interview darüber, wie seine Rolle von außen wahrgenommen wurde. „Man könnte ja auch sagen, mein Job ist der wichtigste – ohne mich gäbe es keine Band mehr.“ Fletch fehlt seinen Mitstreitern in der ersten Reihe wohl auch als eine zwischen den beiden ausgleichende Kraft.

Depeche Mode sind nun nur noch zu zweit. Zu zweit allein. Die Lücke, die Fletcher hinterlässt, und das Vermissen sind in München zu spüren. „Fletch ist da“, erzählt Gahan nach dem Konzert. Wenn er über seine Schulter blicke, sehe er ihn weiterhin. Gore sagt: „Alles, was wir tun, ist jetzt anders.“ Wird es Ersatz für ihn geben? „Nein. Wir haben viel darüber nach­gedacht, und wir hielten es für falsch.“ Einen besten Freund kann man nicht einfach auswechseln.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Ende 2019 begann Gore, neue Songs zu schreiben. Dann brach Covid‑19 aus. „Es war eine beängstigende Zeit“, erinnert er sich. „Man musste sich tagtäglich mit der eigenen Sterblich­keit auseinandersetzen.“ Durch Fletchers plötzlichen Tod haben mehrere Lieder nun eine zusätzliche Bedeutung. „Sei dir bewusst, dass du sterblich bist“, heißt der lateinische Albumtitel übersetzt. Gore will die Worte als ermutigenden Appell verstanden wissen. Im Sinne von: Das Leben kann kurz sein. Nutze die Zeit, um das Beste daraus zu machen.

Die Band besingt häufig die menschliche Zerbrechlichkeit. Sie füllt die triste, düstere Leere, die sich im Leben eines jeden Menschen wie ein Schlund auftun kann, mit wohltuender Melancholie und Beats. „Ghosts Again“, die erste neue Single, ist ein gutes Beispiel dafür. Durch sein unbeirrbares Voranschreiten wirkt der Song wie eine Aufforderung zum Weiter­machen. „Verschwendete Gefühle. Zerbrochene Bedeutungen. Die Zeit verrinnt. Mal sehen, was sie bringt“, singt Gahan. „Wir wissen, wir werden wieder Geister sein.“

Das Konzept der Befreiung durch Elektropop

Der Sänger lebt das einst von Elvis Presley perfektionierte Konzept der Befreiung durch Rock ’n’ Roll auf seine eigene Art und Weise aus. Um die Geschichte seiner Suche nach Liebe und Sinn zu erzählen, sang er zuletzt Songs von anderen. Er nannte das Coveralbum „Imposter“. Schwindler. „Musik ist für mich immer ein Weg, um eine Verbindung zu spüren oder eine Erklärung zu finden, ein Weg, um dazuzugehören“, sagt er. Auf der Bühne tanzt er Pirouetten wie eine Spieldosenballerina und bricht so mit Klischees und Geschlechterrollen wie einst Ziggy Stardust. Gahan verehrt David Bowie.

Auch Gore ist – inspiriert vom Glamrock der Siebzigerjahre – Kajal-Fan. Er hat fast alle der De­peche-Mode-Fetenhits geschrieben und trug so erheblich dazu bei, dass die Gruppe mit mehr als 100 Millionen verkaufter Alben zu den erfolgreichsten Elektrobands gehört.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die Deutschen lieben Depeche Mode besonders. Acht Konzerte gibt die Band ab Ende Mai hierzulande. In England treten sie nur ein einziges Mal auf. Die Musiker gelten als die Stones des Synthiepop, denn sie geben nicht auf. Von alten Weggefährten können nur die Pet Shop Boys mithalten, die auch in Arenen auftreten.

Grazie und schmerzverzerrte Texte

Nach ihrer anfänglichen Popper-Phase fanden die Engländer mit den Alben „Black Celebra­tion“, „Music for the Masses“, „Violator“ und „Songs of Faith and Devotion“ zu einem zeitlosen Sound, einem sinisteren Mix aus New Wave und Elektrotechnik, Glam-Gitarren und Tanzen, Grazie und schmerzverzerrten Texten. Am aufregendsten klingen sie, wenn sie es schaffen, das Unheilvolle und Lässige in einem Song zu kombinieren wie bei „Personal Jesus“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Alle Alben danach ruhen auf diesem Fundament, auch „Memento Mori“. Die kühlen Schreie der Gitarre und der an The Cure erinnernde Bass im Lied „My Favourite Stranger“, das Gore zusammen mit Richard Butler (The Psychedelic Furs) schrieb, sind hemmungslos Achtziger; so wie viele der neuen Stücke. Nur „Soul With Me“, ein Gospelsong im Gore-Design, klingt anders. „I’m ready for the final pages. Kiss goodbye to all my earthly cages“, heißt es in dem Titel. Sterben wird hier nicht als Herausreißen verstanden, sondern als etwas Erlösendes. „Leaving my problems and the world’s disasters.“ Jemand lässt die Käfige persönlicher Probleme und das ganze Weltchaos hinter sich.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die Härte und Kompromisslosigkeit des Todes haben Depeche Mode schon 1986 in „Fly on the Windscreen“ beschrieben: „Death is every­where, the more I look, the more I see, the more I feel.“ Denkt Gore heute anders über das Verblassen und Verschwinden als damals? „Der Tod ist präsenter, weil ich das Gefühl habe, im Herbst meines Lebens zu sein“, antwortet er. Nicht nur Fletcher, auch andere nahestehende Menschen seien in den vergangenen Jahren gestorben. „So wird der Tod zu einem alltäglichen Ereignis.“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Hat er Angst vor dem Sterben? „Wissen Sie“, sagt der 61‑Jährige, „ich möchte mein Bestes geben, um so lange wie möglich zu leben. Das bedeutet aber nicht, dass ich den Tod fürchte. Ich bin jetzt über 60. Es wäre nicht furchtbar, wenn ich morgen tot umfiele. Ich hatte zumindest ein sehr gutes Leben. Es tut mir sehr leid, wenn Menschen mit 20, 30 oder 40 aus dem Leben gerissen werden.“

Gore wollte Bankkaufmann werden, bevor ihn Fletch einlud, beim Depeche-Mode-Vorgänger Composition of Sound mitzuwirken. Haben die Enge und Langeweile, die Trostlosigkeit der Provinz, den Sound von Depeche Mode beeinflusst? Ist aus Gore deshalb ein Sad-Song-Schreiber geworden?

„Unser erstes Album war wirklich nicht besonders traurig. Am Anfang ging es eher darum, einen Weg zu finden, um aus Basildon herauszukommen“, antwortet er. „Basildon war einer dieser Orte, in denen man nichts anderes tun konnte, als sich zu betrinken. Früher gab es dort für junge Leute sehr wenig zu tun“, erzählte er in einem früheren Interview.

„Diese Welt ist nicht unbedingt ein glücklicher Ort“

Woher kommt diese Melancholie dann? Gore erklärt sie mit dem Älterwerden, der wachsenden Bekanntheit der Band und dem tourneenbedingten Reisen. Je weiter er herumkam, je weltoffener er wurde, umso bewusster wurde ihm, „dass diese Welt nicht unbedingt ein glücklicher Ort ist“, sagt er. „Ich möchte Songs schreiben, die das repräsentieren.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

98 Prozent aller Depeche-Mode-Lieder sollen in einer Molltonart komponiert sein, behauptet jemand aus dem Black Swarm im Internet. Stimmt das? „Die Songs von Vince Clarke einge­rechnet? Falls nicht, dann sind 98 Prozent vielleicht zu wenig“, sagt Gore und lacht. Gründungs­mitglied Clarke verließ die Band nach dem ersten Album.

Gore ist ein guter Cult Leader. Als er hört, dass vor dem Interviewhotel zwei Fans seit vielen Stunden auf ihn oder Gahan warten, beschließt er, zu ihnen zu gehen.

Thomas Buder und Marina Schmidt aus Schwarzheide in Südbrandenburg können ihr Glück kaum fassen. Die beiden lernten sich 2013 auf der After-Show-Party eines Depeche-Mode-Konzertes in Berlin kennen. 34‑mal sah der 57‑Jährige die Band bisher live. Zu Hause, erzählt er, hat er sich ein Depeche-Mode-Zimmer eingerichtet. Der Raum ist ein Refugium, in das er sich in „schlechten Phasen“ flüchten kann. Buder und Schmidt waren zwei der 400, die das Radiokonzert miterleben konnten. Jetzt besitzen sie sogar ein Selfie mit dem Sad-Song-Schreiber.

Mehr aus Kultur

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken