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Paul McCartneys „Lyrics“: eine Biografie in 154 Songs

Noch immer auf der Bühne: Paul McCartney bei einem Auftritt  in Cleveland, Ohio.

Noch immer auf der Bühne: Paul McCartney bei einem Auftritt in Cleveland, Ohio.

Hannover. Im Frühling des Jahres 1973 will Dustin Hoffman es wissen. Kann Paul McCartney aus allem einen Song machen? Wirklich aus allem? McCartney ist gerade zu Besuch beim Star aus den Filmen „Reifeprüfung“ und „Papillon“, die Stimmung ist ausgelassen. Hoffman rennt kurz weg und holt einen Artikel des „Time Magazine“. Der handelt von Pablo Picassos Tod.

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Die letzten Worte des Malergenies – so heißt es in dem Artikel – seien gewesen: „Drink to me. Drink to my health. You know, I can‘t drink any more.“ – also „Trinkt auf mich. Trinkt auf meine Gesundheit. Ihr wisst, ich kann nichts mehr trinken.“ „Kannst du darüber einen Song schreiben?“, fragt Hoffman seinen Freund Paul. Er kann. Der Ex-Beatle nimmt seine Gitarre, schlägt ein paar Akkorde an, singt spontan einen Text – und beeindruckt den Schauspieler und dessen damalige Frau Anne Byrne zutiefst. Im selben Jahr wird McCartney mit seiner damaligen Band, den Wings, den Song „Picasso‘s Last Words“ veröffentlichen.

Diese Entstehungsgeschichte eines Songs können wir in der prachtvollen zweibändigen Ausgabe von McCartneys „Lyrics“ nachlesen, die nun erschienen ist. Der 79-Jäh­rige blickt darin mithilfe von 154 Songs auf sein Leben und seine Musikkarriere zurück. „Unzählige Male wurde ich schon gebeten, eine Autobiografie zu schreiben, aber nie war die richtige Zeit dafür“, schreibt er im Vorwort. Viele Prominente würden im Alter ihre Erinnerungen aufschreiben und dafür auf ihre Tagebücher oder ihre Terminkalender zurückgreifen. „Aber solche Aufzeichnungen habe ich nicht. Was ich habe, sind meine Songs – Hunderte –, und eigentlich erfüllen sie denselben Zweck. Sie umfassen mein gesamtes Leben, weil ich schon mit 14 Jahren zu Hause in Liverpool, als ich meine erste Gitarre bekam, instinktiv anfing, Songs zu schreiben. Seither habe ich nicht mehr damit aufgehört.“

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Für die beiden großformatigen Bände hat sich McCartney über einen Zeitraum von fünf Jahren immer wieder mit seinem Co-Autor Paul Muldoon zusammengesetzt und über seine Songs gesprochen. So erfährt der Leser nun 154-mal Hintergründiges, Gedankenvolles, Spontanes, Poetisches und Familiäres. Klatsch und Tratsch allerdings bleiben bewusst außen vor.

Im Studio: Die Royal Mail würdigt Ex-Beatle McCartney mit Sonderbriefmarken.

Im Studio: Die Royal Mail würdigt Ex-Beatle McCartney mit Sonderbriefmarken.

Unter den aufgeführten und kommentierten Songs finden sich sowohl Welthits der Beatles wie „A Hard Days Night“, „All My Loving“, „Eight Days a Week“ und „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ als auch Songs aus der Nach-Beatles-Zeit wie „Mull of Kintyre“, „Silly Love Songs“ und „Ebony and Ivory“ (im Duett mit Stevie Wonder).

Und so lesen wir, dass „Lovely Rita“ von einer Politesse handelt, die McCartney gegenüber der chinesischen Botschaft am Portland Place in London gesehen hat. Oder wir lernen, welche literarischen Einflüsse sich auf McCartneys Schreiben niedergeschlagen haben: Darunter sind Dylan Thomas, Lewis Carroll und Charles Dickens.

Auftritt in München: 1966 spielen die Beatles im Circus Krone.

Auftritt in München: 1966 spielen die Beatles im Circus Krone.

Natürlich sind zahlreiche Fakten bereits bekannt. Den gedanklichen Rundgang des Briten über die Penny Lane mit seinem „Barber showing photographs“ und der „Pretty nurse“, die Poppies – also Mohnblumen – und nicht etwa Puppies (Hundewelpen) verkauft, ist hinlänglich bekannt. Ebenso der Besuch von Pauls Mutter im Traum vor dessen Idee zu „Let It Be“.

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Anderes hingegen muss von den Apologeten der Beatologie neu bewertet werden: Hieß es bislang, dass das Cover des Albums „With the Beatles“ – das berühmte Halbschattenfoto von Robert Freeman – im Palace Court Hotel in Bournemouth geschossen wurde, hat Paul McCart­ney eine andere Erinnerung. „Mit den starken Schatten sieht es aus, als wäre es in einem Studio mit professioneller Beleuchtung entstanden, aber tatsächlich wurde es in einem Hotelflur in Weston-super-Mare geschossen, einer alten Küstenstadt im englischen Westen.“

Aufgetaucht aus den Tiefen der Archive ist bei der Arbeit an diesem Werk auch ein unveröffentlichter Beatles-Song. Aus welchem Jahr genau der Song „Tell Me Who He Is“ stammt, der sich in einem Schreibheft fand, ist unklar. „Ich kann mich kaum an den Song erinnern. Wahrscheinlich stammt er aus den frühen 1960ern“, erklärt McCartney in dem Text zu dem Song. Letztlich besteht er nur aus acht Zeilen und ist wohl auch nicht mehr als der Anfang zu einem abgebrochenen Lied.

Eine weitere entscheidende Information für künftige Pilzkopf-Historiker und Fab-Four-Philosophen wird sein: Die Songtexte wurden standardisiert, sodass nun erstmals zumindest für diese 154 Songs eine endgültige Textfassung vorliegt. Dass dies zu Beginn des Buchs in einer editorischen Notiz besonders betont wird, dass den beiden Büchern ein Zitat aus „Hamlet“ vorangestellt wird, dass Dichter in den Texten immer wieder genannt werden, macht deutlich: Hier soll die Brücke zwischen Lyrics und Lyrik geschlagen werden, es geht auch um die Poetisierung des Pop.

Und warum auch nicht? Seit Bob Dylans Nobelpreis ist der Weg zwischen den beiden Ufern kürzer geworden. Zumal die Ursprünge der Lyrik ja sowieso in der Musik und im Gesang liegen und die Gattung sich erst im Laufe der Zeit zur heutigen Einsamkeitspoesie voller Innerlichkeit entwickelt hat. In den beiden Bänden ist auch spannend zu beobachten, welche Texte nur funktionieren, weil eine harmonische Melodie oder der zu Herzen gehende Gesang der Beatles sie tragen. Und welche Texte auch beim reinen Lesen eine Kraft, eine Melodie, einen bleibenden Drive entwickeln.

Unterwegs: Paul McCartney, fotografiert von seiner Frau Linda.

Unterwegs: Paul McCartney, fotografiert von seiner Frau Linda.

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Mindestens genauso packend wie die Erinnerungen und Gedanken des Musikers aber sind in den beiden Bänden die Fotos und Fundstücke, die gezeigt werden. Die überwiegende Mehrzahl stammt aus den „McCartney Productions Ltd.“-Archiven, die mehr als eine Million Gegenstände beherbergen. Zu sehen sind Originalzettel, auf denen etwa der Text von „Eleanor Rigby“ oder von „Penny Lane“ geschrieben steht. Aber auch Schulheftzeichnungen von John Lennon werden gezeigt, handschriftliche Partituren und natürlich zahllose Fotografien. „Rund die Hälfte der Fundstücke, die wir hier zeigen, waren bisher noch nie zu sehen“, betont Co-Autor Muldoon.

„Dear Sir or Madam, will you ­read my book?“ heißt es zu Beginn des Beatles-Hits „Paperback Writer“. Beatles-Fans, Beatles-Wiederentdecker, aber auch Beatles-Neulinge – Sir oder Madam – werden hier getrost sagen können: „Yeah, yeah, yeah! Eight Days a Week“.

Paul McCartney: „Lyrics. 1956 bis heute“. Deutsche Ausgabe. Herausgegeben mit einer Einleitung von Paul Muldoon. Aus dem Englischen übersetzt von Conny Lösch. Verlag C. H. Beck. 874 Seiten mit 647 Abbildungen, 78 Euro.

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