Willy Brandt

50 Jahre „Mehr Demokratie wagen“

„Wir fangen erst richtig an“: Willy Brandt, hier als Bronzefigur von Rainer Fetting.

„Wir fangen erst richtig an“: Willy Brandt, hier als Bronzefigur von Rainer Fetting.

Lübeck. Es gab keinen Applaus, als Willy Brandt Geschichte schrieb. Das Bundestagsprotokoll vermerkt nur wenig später eine Frage des Oppositionsführers Rainer Barzel von der CDU, der etwas nicht richtig verstanden hatte. Der neue Kanzler hatte seinen historischen Satz recht weit an den Anfang seiner Regierungserklärung gesetzt, auf die zweite von 35 Seiten. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ stand da.

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Gesagt hat er das vor einem halben Jahrhundert, im Oktober 1969. Es war damals im Bundestag nicht sonderlich aufgefallen. Anders etwa als die Schlusssätze. „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen“, hatte Brandt da erklärt und die Opposition in Rage gebracht. „Das ist ein starkes Stück, Herr Bundeskanzler!“, taucht erneut ein empörter Barzel im Protokoll auf. „Ein starkes Stück! Unglaublich! Unerhört!“

Internationale Konferenz

Rainer Barzel sagt heute nicht mehr allen etwas. Willy Brandts Demokratie-Bekenntnis aber stand fortan über seinem Leben und Wirken. Im September 2017 hat es in Berlin eine internationale Konferenz zum 50. Jahrestag der Regierungserklärung und zu diesem Satz gegeben, organisiert von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und anderen Einrichtungen. Jetzt liegt ein Band mit den Tagungsbeiträgen vor, und er führt mitten hinein in eine Phase, die mehr Demokratie dringend nötig hatte.

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Es waren andere, bleierne Zeiten damals. An den Universitäten der Bundesrepublik herrschten die Ordinarien, in den Betrieben hatten Lehrlinge wenig zu melden. Sex unter Männern war strafbar, Ehefrauen brauchten noch bis 1977 die Erlaubnis ihres Gatten, um arbeiten zu dürfen. Und an der Basis wurde nicht groß diskutiert. Bei seinem ersten SPD-Landesparteitag 1967 wurden vier Referate gehalten, dann gab es eine Dampferfahrt auf der Förde, erinnerte sich der spätere Kieler Oberbürgermeister Norbert Gansel: „Kein einziger Diskussionsbeitrag.“

BAFöG und wählen mit 18

Es gab also genug zu tun, und die neue sozial-liberale Koalition unter der Führung eines Widerstandkämpfers und Emigranten brachte eine ganze Reihe von Reformen auf den Weg: Man durfte schon mit 18 statt mit 21 wählen, in den Hochschulen gab es Mitsprache. Die Strafrechtsreform schaffte die Strafbarkeit des Ehebruchs ab und entkriminalisierte Homosexualität. Ein neues Berufsbildungsgesetz räumte Lehrlingen mehr Rechte ein, die Einführung des BAFöG 1971 öffnete den Weg zu mehr und höherer Bildung. Es war, als würden die Fenster weit aufgestoßen.

Aber das geschah nicht nur in der Bundesrepublik. Ähnliches spielte sich in Frankreich ab, wenn auch verzögert. In Großbritannien, wo der konservative Regierungschef Edward Heath 1973 wegen der Ölkrise die Drei-Tage-Woche einführte, den Notstand ausrief und die Dinge überhaupt aus dem Ruder liefen, gab es ebenfalls gewaltigen Reformbedarf. Und in den USA machte sich ein Präsident daran, den Wohlfahrtsstaat auszubauen, eine nationale Umweltbehörde zu gründen, gegen Geschlechter-Diskriminierung vorzugehen, und einen nationalen Krankenversicherungsplan forderte er auch. Er hieß übrigens Richard Nixon.

Mehr Demokratie schon 1950

Mehr Demokratie wagen also, und zwar auf vielen Ebenen und Kontinenten. Andere wie Jürgen Habermas sprachen von einer „Fundamentalliberalisierung“. Aber das war keine Erfindung der Ära Brandt. Die Reformen hatten schon früher eingesetzt, teils bereits Ende der 50er Jahre. „Mehr Demokratie wagen“ war daher mehr Ausdruck als Beginn einer neuen Zeit. Willy Brandt selbst hatte schon 1950 gesagt: „Wir werden unser Volk nur dann demokratisch machen, wenn wir Demokratie riskieren.“

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Und Wahlbeteiligungen von manchmal mehr als 90 Prozent ließen vermuten, dass da ein Bedarf nach Mitgestaltung bestand. Mitverantwortung war etwas, das Brandt ausdrücklich von den Bürgern verlangte. Allerdings nicht von Kommunisten im öffentlichen Dienst, denen er mit dem Radikalenerlass den Zugang verwehrte. So viel Demokratie sollte es dann doch nicht sein. Er habe sich „geirrt“, würde er später dazu sagen. In vielen anderen Dingen dagegen glücklicherweise nicht.

Info: Axel Schildt, Wolfgang Schmidt (Hg.), ",Wir wollen mehr Demokratie wagen'. Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens", Dietz-Verlag, 296 Seiten, 32 Euro

Peter Intelmann

LN

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