Rio Reiser, leicht entflammbar

Das Grab von Rio Reiser in Berlin.

Das Grab von Rio Reiser in Berlin.

Lübeck. Es war ihm nicht gut gegangen die letzten Tage. Er hatte sich nicht wohlgefühlt. Jetzt lag er auf seiner Matratze, tot, mit 46 Jahren. Rio Reiser war an Herz- und Kreislaufversagen gestorben, so stand es später im Totenschein. Als sie ihn begruben, taten sie das im Garten des alten Bauernhauses, oben in Fresenhagen nahe der dänischen Grenze, wo er gewohnt hatte. Das Fax mit der Genehmigung von Ministerpräsidentin Heide Simonis kam, als sie den Sarg nach dem Gottesdienst in Leck aus der St.-Willehad-Kirche trugen.

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Es gibt nicht viele Rockstars in Schleswig-Holstein, Rio Reiser war einer von ihnen. Aber er war zugereist, geflohen aus Berlin, wo alles zu viel geworden war für ihn und Ton Steine Scherben. Er hatte in der Band gesungen und Gitarre gespielt, und es war schon seltsam, sie oben in der nördlichsten Ecke der Republik zu finden. Es passte zwar in die Zeit, auch Harmonia, Kraan oder Faust lebten als Musikerkommune auf dem Land, aber Ton Steine Scherben schienen da irgendwie nicht hinzugehören.

Das lag an den Texten, die Reiser zu dem knochigen Scherben-Rock geschrieben hatte. Die klangen eher nach Berlin, nach den Metropolen. Die erzählten von Hausbesetzungen und Streikposten, vom Straßenkampf, und das war in Nordfriesland denn doch schwer zu finden. Aber das war ja nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hatte die Band auch anderes im Programm, Liebeslieder, Durchhaltesongs, und die stammten ebenfalls von Rio Reiser.

Da war ja immer beides in ihm zu Hause, das Harte und das Weiche, die äußere und die innere Revolution. Er bewegte sich zwischen Rock’n’Roll und Julio Iglesias, zwischen der Politparole auf dem Spruchband und manchem, was hart am Kitsch gebaut war. Aber es gelangen ihm auch Zeilen für kleine Ewigkeiten. „Mach kaputt, was euch kaputt macht“ zum Beispiel oder „Keine Macht für niemand“, der Titel ihres zweiten Albums.

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Das war 1972 erschienen und damit zu einer Zeit, als ein Mann namens Udo Lindenberg vom Schlagzeug zum Mikrofon wechselte. Ton Steine Scherben hatten damals schon eine Weile kleine und größere Bühnen bereist, auch 1970 beim Fehmarn-Festival mit dem letztem Auftritt von Jimi Hendrix waren sie dabei. Lindenberg ist also mindestens nicht allein, wenn es um die Wurzeln deutschsprachiger Rockmusik geht.

Nachlesen kann man das alles in einem Buch, das zu Rio Reisers 20. Todestag erschienen ist. Sein Bruder Gert hat es geschrieben, der mittlere von drei Möbius-Brüdern. Es ist auch ein Fan-Buch geworden und soll wohl manches in der zum zehnten Todestag veröffentlichten Biografie des Journalisten Hollow Skai korrigieren, der auf die Reiser-Erben nicht sehr gut zu sprechen ist. Gert Möbius stützt sich auf Erinnerungen und Tagebücher seines Bruders, auf Briefe und unveröffentlichte Texte. Er gibt so Einblick in den leicht zerbrechlichen Seelenhaushalt eines Menschen, der stets auf der Suche war, gerade auch nach sich selbst.

Reiser wird als Sohn eines Siemens-Ingenieurs geboren. Ein eigenwilliger Junge, der die Beatles als Offenbarung erlebt und fortan Rockstar werden will. Er macht mit seinen Brüdern Theater, schreibt Songs, sie stellen eine Beat-Oper auf die Beine und fragen tatsächlich Brian Wilson von den Beach Boys, ob er nicht mitspielen mag. Rainer Werner Fassbinder taucht auf in dieser Zeit, der damals in Frankfurt Kindertheater machte, der junge Anwalt Otto Schily, die Studentenbewegung, Andreas Baader – und mittendrin Rio Reiser.

Er ist schwul und ein guter Mensch, aber leicht entflammbar. Sein christlicher Glaube ist keine Attitüde, auch nicht das Pathos in seinen Texten, seine gelegentliche Divenhaftigkeit und der Hang zu Tarot und Horoskopen sind es schon eher. Er ist eine große Begabung und ungemein produktiv, er macht den Weg breiter, auf dem später andere mit deutscher Rockmusik mehr Erfolg haben als er.

Aber er geht immer wieder auch unter in Alkohol und anderen Drogen, von Geldsorgen ganz zu schweigen. Nach einer furchtbar missratenen Tour 1982 haben Ton Steine Scherben auf einmal 300000 Mark Schulden, und die jetzige Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) versucht als Managerin zu retten, was zu retten ist.

Heute ist von Rio Reiser in Schleswig-Holstein nicht mehr viel geblieben. Seine Gebeine wurden vor fünf Jahren umgebettet, er liegt nun auf dem Berliner St.-Matthäus-Kirchhof begraben. Der alte Fresenhagener Bauernhof, den sie 1975 für 50000 Mark gekauft hatten, ist vor zwei Jahren versteigert worden. Er ging an eine Frau aus Mönchengladbach. Sie war übers Internet auf den Hof gestoßen. Von der Geschichte des Hauses, sagte ihr Mann, habe sie nichts gewusst.

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 Peter Intelmann

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