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Prozess in Norderstedt

Missbrauchsprozess: Gutachterin hält Opfer für glaubwürdig

Der Angeklagte vor dem Amtsgericht Norderstedt mit seinem Verteidiger Jens Hummel (links).

Der Angeklagte vor dem Amtsgericht Norderstedt mit seinem Verteidiger Jens Hummel (links).

Norderstedt. Den Prozess wegen schwerem sexuellen Missbrauchs an einem zwölf Jahre alten Jungen – einer Tat, die vor 23 Jahren passiert sein soll – wollte das Amtsgericht schon vor Monatsfrist beendet haben. Doch nun will das Amtsgericht Norderstedt unter dem Vorsitz von Richter Jan Willem Buchert am sechsten Verhandlungstag Ende April die Geschwister des heute 34 Jahre alten Hauptbelastungszeugen hören, die zu der möglichen Tatzeit damals zwölf beziehungsweise zehn Jahre gewesen sind.

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Angeklagt ist ein 54 Jahre alter Norderstedter, der damals mit seiner acht Jahre alten Tochter in Norderstedt allein wohnte und sich dort Ende der 1990er Jahre einer Gruppe von alleinerziehender Müttern und Vätern anschloss. Gemeinsam machten sie Ausflüge und andere Unternehmungen mit ihren Kindern und ließen sie auch wechselseitig bei sich übernachten, sagte am Rande des Prozesses der Vater des mutmaßlichen Opfers, der bereits als Zeuge angehört wurde. „Das ging immer reihum“, sagte er und fügte hinzu: „Heute mache ich mir Vorwürfe.“

Der fünfte Verhandlungstag begann mit einer erneuten Anhörung des damaligen mutmaßlichen Opfers, das seit einigen Jahren verheiratet in der Schweiz lebt. Der Hauptbelastungszeuge war per Video zugeschaltet. Er sei gesundheitlich nicht in der Lage gewesen, nach Norderstedt anzureisen, begründete Richter Buchert, bevor er die Öffentlichkeit ausschloss. Die detaillierte Beschreibung jener Erlebnisse in dieser für ihn verhängnisvollen Nacht im September 2000 in Norderstedt sei zu intim, als dass sie öffentlich werden solle, hieß es zur Begründung.

Gericht will zwei Zeuginnen befragen

In der anschließenden Befragung der Sachverständigen Judith Arnscheid aus Stuttgart blitzten dann allerdings noch ein paar Details hervor. Dass sich der Hauptbelastungszeuge durchaus daran erinnern konnte, was er damals anhatte, als er bei dem heute 54 Jahre alten Norderstedter in dessen Bett lag und plötzlich vergewaltigt worden sei. Tage später habe er Schmerzen am Anus verspürt, Blut im Stuhlgang und Angst gehabt, geschlechtskrank geworden zu sein.

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Auch mit den beiden etwa gleichaltrigen Töchtern habe er darüber gesprochen, die die damalige Lebensgefährtin seines Vaters zeitweise in die siebenköpfige Patchworkfamilie eingebracht hatte. Er habe sie gefragt, ob auch sie Ähnliches in der Wohnung des Angeklagten erfahren hätten. Ob diese beiden Frauen sich heute, 23 Jahre später, daran erinnern können, will das Gericht klären, entschied der Vorsitzende Richter in einer Sitzungsunterbrechung.

Erst 2019 wurde die mutmaßliche Tat angezeigt

Erst bei seinem Besuch zu Weihnachten 2019 bei Vater, Bruder und Großmutter in Norderstedt hat sich das Opfer der Familie gegenüber offenbart und die Vergewaltigung bei der Polizei in Norderstedt angezeigt. Die sachverständige Familientherapeutin aus Stuttgart hat das Opfer daraufhin in mehreren Sitzungen eingehend befragt und ein Gutachten dazu verfasst. Vor Gericht attestierte sie – ebenfalls per Video zugeschaltet –, dass sie die Aussagen des mutmaßlichen Opfers für glaubwürdig hält.

Alle seine Beschreibungen deuteten darauf hin, dass er das Erzählte tatsächlich auch so erlebt habe und sich nicht etwa eingebildet oder angelesen habe, versicherte Dr. Arnscheid. Der damals Zwölfjährige habe eine schwere Kindheit gehabt – Vater psychisch krank, Mutter alkoholsüchtig – und leide an ADHS und Depressionen. Eine Persönlichkeitsstörung liege dagegen nicht vor, urteilte die Gutachterin. „Er ist ein intelligenter Mann, der aber sehr starr in seiner Handlungsweise ist.“

Gutachterin schließt „Pseudo-Erinnerung“ aus

Der Mann berichte und beschreibe alles genau so „wie jemand etwas erzählt, das er erlebt hat und an das er sich erinnert“, sagte die Gutachterin. Sein Sprachstil und seine Formulierungen würden das bestätigen. Theoretisch könnte er sich die Geschichte zwar auch ausgedacht haben, sagte die Gutachterin. „Aber dafür habe ich keinerlei Hinweise gefunden.“

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Die Einwände des Richters Buchert, dass er bestimmte Details der Kleidung oder des Körperkontakts mit dem Angeklagten in seinen Aussagen bei der Polizei und vor Gericht anders dargestellt habe, räumte sie aus. Entscheidend sei das Kerngeschehen, und das erinnere er immer wieder gleich, was für seine Glaubwürdigkeit spreche. Details zu Zeitangaben, Kleidung, Reihenfolge der Geschehnisse oder sogar das Schmerzempfinden könnten sehr wohl voneinander abweichen, zumal er sie sich durch die mehrmaligen Befragungen immer wieder neu in Erinnerung rufen müsse, erklärte die Sachverständige.

Auch seine Einlassung, dass er sich im ersten Moment nach der Tat gedacht habe, der Angeklagte habe ihn vielleicht mit seiner Frau verwechselt, spreche nicht dagegen, befand die Gutachterin. Für ein Kind in seinem Alter sei es ganz normal, sich so etwas vorzustellen und so den Missbrauch für sich zu erklären. „Die Vorstellung, dass Mann und Frau miteinander kuscheln, ist durchaus kindlich“, sagte sie vor Gericht. Dass die Anklage auf einer „Pseudo-Erinnerung“ beruhe, wie die Verteidigung glaubt, hält die Gutachterin darum für abwegig. Die Qualität der Aussagen des mutmaßlichen Missbrauchsopfers sei gut und plausibel, schlussfolgerte sie.

Der Prozess wird fortgesetzt. Wegen des damaligen Alters des Opfers wäre die Tat erst 2026 verjährt gewesen.

LN

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