Tafel seit 25 Jahren

Pommes vom Müll: Schlüsselerlebnis führte zu Tafel-Gründung Bad Segeberg

Zwei Jahre lang sammelte das Tafelteam anfangs Lebensmittel mit ihren Privatwagen ein. 2000 nehmen die Helfer ihr erstes gesponsertes Auto entgegen.

Zwei Jahre lang sammelte das Tafelteam anfangs Lebensmittel mit ihren Privatwagen ein. 2000 nehmen die Helfer ihr erstes gesponsertes Auto entgegen.

Bad Segeberg. Vor einigen Jahren waren 300 bis 400 Tafelausweise noch die Spitze für die Bad Segeberger Tafel. Jetzt sind es rund 450 Ausweise, die vergeben sind, um Bedürftigen den Zugang zu ausreichend Lebensmitteln zu gewähren. Mehr als 1500 Menschen werden in den Familien so jede Woche versorgt. Dem Trend entgegenzuwirken ist schwierig. Das hat sich auch nach Jahrzehnten nicht verändert. Die Tafel wird durch unruhige Zeiten manövriert. In 2023 wird Bad Segebergs Tafel 25 Jahre alt. 

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Dass die Not größer werden würde, hätte Herdis Hagemann wohl nicht gedacht. Sie hatte 1998 zusammen mit Christine Winter Nägel mit Köpfen gemacht und die Anlaufstelle in Bad Segeberg gegründet. Es war damals die 98. Tafel in Deutschland. Ein trauriges Schlüsselerlebnis war der Auslöser. „Wir waren in der Innenstadt Kaffeetrinken und beobachteten einen jungen Mann, der ziemlich zerlumpt aussah. Vor dem Imbiss ,Kochlöffel’ fischte er ein Stück Pappe aus dem Mülleimer. Er strich die Reste vom Pommes und Mayonnaise zusammen, um sie zu essen“, erinnert sich Herdis Hagemann. „Ich dachte nur, das kann doch nicht sein, dass es so etwas in unserem Land gibt.“

Tafel: Start in Garagen und mit Privatfahrzeugen

Eine Woche später entdeckte sie denselben Mann wieder in der Kurhausstraße, diesmal in einer Bäckerei. „Er hatte sich einen Kakao gekauft. Ich habe ihn gefragt, ob er auch Hunger hat. Da nickte er nur.“ Also kaufte sie ihm ein belegtes Baguette. „Da war endgültig klar, dass etwas passieren musste“, sagt Hagemann. Damals hatten die Frauen noch nicht von der Tafel gehört, doch lange ließ das nicht auf sich warten. Annemarie Dose, die Gründerin der Hamburger Tafel, wurde zum Vorbild. „Dann zogen wir los, wir brauchten ja Gelder und Räume“, sagt sie.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

In Garagen und mit ein paar Körben hatte es angefangen. Die erste Anlaufstelle gab es wenig später am Zob; „Laden ohne Kasse“ war auf einem orangefarbenen Schild am Eingang des Flachbaus zu lesen. Ermöglicht hatte das Bürgermeister Udo Fröhlich. Unterstützt wurden sie schon früh durch Spenden, etwa einen Kühlschrank oder eine Telefonanlage. Möbel Kraft spendete damals die Möbel wie Tresen, Tische, Stühle, Regale – ohne viele Worte darüber zu verlieren. Die Supermärkte gaben die ersten Waren dankbar ab. Das Tafelteam, damals fünf Leute, holte sie mit Privatfahrzeugen ab. Manches Mal zum Leidwesen der Familien, die neben Kohlköpfen und verschütteter Milch im Wagen saßen. Doch die Frauen ließen sich nicht beirren.

Lesen Sie auch

Nach zwei Jahren: Tafel Bad Segeberg hat hunderte Mitglieder

Am ersten Ausgabetag lagen 48 Brötchen und 28 Brote bereit. „Wir waren natürlich gespannt, ob jemand kommt“, sagt Hagemann. Doch schnell hatte sich das herumgesprochen. Am ersten Tag kamen 70 Kunden, die Regale waren nach nur eineinhalb Stunden leergefegt. Warteschlangen bildeten sich schon damals. Doch auch der Zuspruch war enorm: Tausende D-Mark gaben Unternehmer als „Startkapital“ dazu. Die meisten waren überzeugt von der Idee. Das Netzwerk wuchs rasant. 50 Mitglieder waren schnell zusammen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Tafel Bad Segeberg: Dutzende Aktive helfen

720 Mitglieder hat die Tafel, davon 120 aktive. Wenigstens 18 Euro kostet der Jahresbeitrag. Neue Helfer sind immer gern gesehen. Mehrere Tonnen an Ware werden pro Woche von den Ehrenamtlern bewegt. Supermärkte werden angefahren, aber auch Bauernhöfe für Kartoffeln oder Geflügelfarmen wegen der Eier.

Zudem ist die Segeberger Tafel immer im Austausch mit rund zehn Tafeln in der Region. Neben Lebensmitteln werden teilweise auch Kosmetika oder Haushaltswaren verteilt. Immer wieder gibt es Sonderaktionen, wie Paletten mit Waschmittel oder Schokolade, die unter den Tafel-Landesverbänden aufgeteilt werden. Mehr Infos gibt es auf www.segeberger-tafel.de.

Das Vitalia-Hotel gab das erste Auto als Leihgabe, die Bad Segeberger Firma Renault-Kramer spendierte schließlich das erste Fahrzeug „für die überaus rührige Initiative“, schrieben die LN im Jahr 2000. Sponsoren sorgten kurz darauf für ein zweites Auto. „Segebergs ganze Geschäftswelt hat mitgemacht“, erinnert sich Hagemann. Mit Charme und Hartnäckigkeit klopfte das Team an viele Türen. Das sorgte gar bundesweit für Furore, denn schon 2001 hatte Bad Segebergs Tafel die meisten Mitglieder – rund 400. Zum Dank gab es den ersten Sprinter als geräumiges Transportfahrzeug. Damals wie heute ist das Team eine eingeschworene Gemeinschaft. 

Seit 2016 wird strenger kontrolliert

So ging es mit der Tafel weiter: 2007 wird die Aktion "Ein Teil mehr im Korb" ins Leben gerufen. Dabei werden Kunden in Supermärkten gebeten, etwas mehr einzukaufen, um es anschließend der Tafel zu spenden. Am 29. Oktober 2010 siedelt die Tafel in die Efeustraße 1 um, in die Räume einer ehemaligen Blumenbinderei. Handwerker bauen kostenlos an. Der neue Standort gestaltet sich etwas besser – weniger auf dem Präsentierteller für die Kunden. 2012 übernimmt Hans-Joachim Wild, den alle nur "Addi" nennen, den Vorsitz der Tafel. Ein weiterer Glücksgriff für den Verein.

Ob Schulen, Behörden, Versicherungen, Gastronomen oder andere: Es gibt wohl kaum Betriebe und Institutionen in Bad Segeberg und Umgebung, die noch nicht mit der Tafel zu tun hatten. Viele helfen seit Jahren und Jahrzehnten.

Ob Schulen, Behörden, Versicherungen, Gastronomen oder andere: Es gibt wohl kaum Betriebe und Institutionen in Bad Segeberg und Umgebung, die noch nicht mit der Tafel zu tun hatten. Viele helfen seit Jahren und Jahrzehnten.

Nicht nur der Ort ist inzwischen ein anderer, es wird auch strenger kontrolliert. Anfangs durfte noch jeder kommen, was auch kritisiert wurde. 20 Prozent der Kunden hätten es vielleicht nicht unbedingt nötig gehabt. Aber gedacht wurde vor allem an die 80 Prozent. Seit 2016 muss ein Nachweis über die Bedürftigkeit vorgelegt werden. Der Grund: Sie Syrienkrise von 2015. Als sich abzeichnete, dass die Lettow-Vorbeck-Kaserne in Bad Segeberg zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge werden würde, wurden Tafelausweise eingeführt. Denn schnell war klar, dass es so viele Lebensmittel nicht zu verteilen gab.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Das System wurde auch ausgenutzt

Inzwischen wird der Ausweis einmal im Jahr eingezogen. Die Kunden bekommen ihn wieder, wenn sich in aktuellen Bescheiden eine Bedürftigkeit feststellen lässt. Das Prinzip wurde fairer. Auch im Hinblick auf Spender und Sponsoren. Doch auch später wurden noch Unstimmigkeiten entlarvt: Wenn etwa von zwei Bescheiden nur einer vorgezeigt wurde. Einige Schwindler fielen dabei durchs Raster. Das Dreisteste, was der ehemalige Vorsitzende Hans-Joachim Wild erlebt hatte, war ein älteres Paar mit einer gemeinsamen Rente von 2200 Euro. Inzwischen kann so etwas weitgehend ausgeschlossen werden.

Es sind bewegte Jahre. 2020 kam die Pandemie mit Gesundheitsauflagen, 2022 der Ukraine-Krieg. Die Menschen haben weniger Geld zur Verfügung. Erneut kommen viele Flüchtlinge ins Land.

Es sind bewegte Jahre. 2020 kam die Pandemie mit Gesundheitsauflagen, 2022 der Ukraine-Krieg. Die Menschen haben weniger Geld zur Verfügung. Erneut kommen viele Flüchtlinge ins Land.

Seit Mai 2016 betreibt die Segeberger Tafel eine Zweigstelle in Wahlstedt; in den Räumen der Kirchengemeinde. Stark besucht sind beide Anlaufstellen. Damals wurden an beiden Standorten noch insgesamt 250 Ausweise vergeben.

Zahl der Tafel-Kunden in sechs Jahren verdoppelt

Herbst 2018: Die Segeberger Tafel gibt jetzt an zwei Tagen pro Woche Lebensmittel aus. Zum Freitag kommt der Mittwoch dazu. Die viele Arbeit soll entzerrt, noch weniger Lebensmittel vernichtet werden. Auch die Warteliste ist lang und soll kleiner werden. Zum 20. Jubiläum wird zum Tag der offenen Tür eingeladen. "So, wie die Tafel gewachsen ist, ist sie eine Institution. Das kann man mit Fug und Recht behaupten", sagte Tafel-Urgestein Hans-Joachim Wild. In 2021 gibt es schließlich inklusive Montag drei Ausgabetage, nun herrscht in der Efeustraße ein Fünf-Tage-Betrieb.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

März 2022: Kirsten Tödt übernimmt als Vorsitzende das Ruder der Tafel – in unruhigen Zeiten. Erst die große Flüchtlingswelle 2015, dann die Corona-Pandemie seit 2020 und schließlich der Ukraine-Krieg in 2022, der nicht nur eine neue Flüchtlingswelle ausgelöst hat. Eine extreme Inflation, hohe Energie- und Lebensmittelpreise und weniger Spenden sorgen für eine nie dagewesene Belastung für alle Tafeln. Die Menschen haben weniger Geld. In Segeberg schießt die Politik schnell Geld dazu. Wer kann, hilft nach Kräften.

Aber es gibt auch Lichtblicke: Seit 2021 rettet die Tafel Lebensmittel mit einem E-Transporter. Das neue Kühlfahrzeug entlastet den strammen Terminkalender der Helfer. Ende 2022 bekommt der Verein eine Photovoltaikanlage aufs Dach, die bald 40 Prozent des Verbrauchs abdecken kann. Zusätzlich führt nun eine Buslinie mit Haltepunkt am Standort in der Efeustraße vorbei. Für die Warteschlange soll bald ein Unterstand folgen.

Von Irene Burow

LN

Mehr aus Segeberg

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken