Schauspielerin Nora Tschirner: „Scham ist in unserer heutigen Gesellschaft komplett eskaliert“
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Nora Tschirner leiht dem Wissensformat „42“ ihre Stimme.
© Quelle: picture alliance / Flashpic
Sie ist als Schauspielerin unter anderem aus dem Weimar-„Tatort” und aus Kinofilmen wie „Keinohrhase” bekannt: Nun leiht Nora Tschirner ihre Stimme der Arte-Wissensserie „42 – Die Antwort auf fast alles”. Mit einem augenzwinkernden Verweis auf Douglas Adams’ Kultbuch „Per Anhalter durch die Galaxis” will das Format ab Freitag, 3. September, durch die großen und kleinen Fragen der Menschheit leiten. Zu sehen sein wird „42 – Die Antwort auf fast alles” auf arte.tv, im Arte-Youtube-Kanal und im Fernsehen. Die erste Folge mit dem Untertitel „Können wir uns durch die Erdkugel graben?“ ist ab dem 3. September auf arte.tv zu sehen und läuft am Samstag, 4. September, ab 22.40 Uhr im Fernsehen. Im RND-Interview spricht Nora Tschirner über das Format und sich als „Gesellschaftsfan”:
Nora Tschirner, was ist das Spannendste, das Sie durch das Format „42 – Die Antwort auf fast alles” gelernt haben?
Für mich war am eindrücklichsten die Aussage, dass wir 2020 zum ersten Mal den Punkt erreicht haben, an dem alles, was von der menschlichen Spezies produziert wurde, genauso viel wiegt wie alles Leben auf der Erde. Das hat mich noch mal angeschubst in meinem Leben, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen und etwa mein Kaufverhalten zu überdenken.
Was haben Sie für Maßnahmen getroffen? Gab es konkrete Veränderungen?
Konkrete Veränderungen gibt es vor allem im Mindset. Ich denke vor einer Kaufentscheidung noch mal viel genauer nach, weil ich immer dieses Bild vor Augen habe, dass ich mit eigenen Händen noch etwas auf diese Waagschale packe. Das hat auch meinen Blick auf Secondhandware gelegt, oder darauf, Sachen zu teilen. Mein Mixer hat zum Beispiel aufgegeben und ich wollte mir sofort einen neuen bestellen; dann habe ich mit meiner Nachbarin gesprochen und jetzt leihe ich mir ihren aus, und sie leiht sich bei mir mal was aus. Eine Lösung dieser ganzen Problematik werden auch Sharing Communitys sein.
Hat das Format auch Ihr Verständnis von Naturgefahren verändert?
Das brauchte es eigentlich nicht, da war ich schon relativ informiert. Aber was es natürlich macht, ist, dass wir plötzlich einen Schritt weitergehen und besprechen, wie man damit umgehen kann, und uns verschiede Modelle vorstellen. Man bleibt mit einem Aufatmen zurück und nicht mit einem schweren Klotz im Magen, weil man merkt: Wir haben schon noch Möglichkeiten, wenn wir uns entschließen. Das finde ich in diesen Zeiten psychologisch wichtig. Was wir nicht brauchen können, ist ein riesiger Schwarm, der innerlich resigniert. Wir brauchen einen Aufbruch, der kann auch was Lustvolles sein.
Mit Blick auf die Bundestagswahl: Wie sehen Sie da die deutsche Politik aufgestellt?
Die Politik ist ein Abbild dessen, was wir als Gesellschaft geschaffen haben. Da können wir uns als Wähler nicht rausnehmen. Wir haben eine fast nicht vorhandene Fehlerkultur in uns selbst und auch in unserem Blick auf die Welt. Das ist nichts, das Kreativität befördert. Uns steht als Gesellschaft ein Kulturwandel bevor, den wir alle mittragen müssen. Das fängt im Alltag an: Wie begegnen wir Leuten? Wie schnell urteilen wir über unser Gegenüber? Wenn ich mir den Wahlkampf angucke, finde ich ihn schwierig, weil ich eine sich bremsende Dynamik sehe.
Was würden Sie sich stattdessen wünschen?
In einer perfekten Welt würde ich mir vorstellen, dass die klugen Gedanken aus allen Parteien erstmal kreativ, wertfrei und ohne dass jeder zuerst seine machtpolitischen Schäfchen ins Trockene bringt, in einen Topf kommen und daraus Neues entsteht. Dass man sagt: Wir brauchen auch einen Planeten, auf dem wir das alles machen können, und haben eine Verantwortung, die in die Zukunft geht. Wir haben die Möglichkeiten, einen Wandel zu bewirken, aber wir können nicht darauf warten, dass das an der Spitze irgendwer allein hinbekommt. Wir müssen wieder verstehen, wie wir uns verbinden, wie wir Leuten vertrauen, wie wir unseren Kopf für andere Ansichten öffnen. Ich sehe geschlossene Visiere auf allen Seiten. Wenn keiner von uns sich traut, sich zu zeigen, wird es schwer.
Sonst stehen Sie vor allem vor der Kamera, jetzt leihen Sie einem Wissensformat Ihre Stimme. Ist es Ihnen wichtiger, nun mehr Zeit in solche Projekte zu stecken?
Ich stecke schon lange mehr Zeit in solche gesellschaftspolitischen Sachen. Das, was man von mir sieht, sind aber natürlich Projekte, in denen ich als Schauspielerin aktiv bin. Aber was ich eigentlich als mein Tagesgeschäft bezeichnen würde, spielt sich in diesen Gedanken über gesellschaftspolitische Zusammenhänge ab. Das treibt mich am meisten an. Ich war nie in erster Linie passionierte Schauspielerin, die sich nichts anderes vorstellen konnte. Ich war immer eher Gesellschafts- und Menschenfan und habe überlegt, wie ich meinen Beitrag leisten kann. Das wird jetzt nur sichtbarer.
Sind speziell Wissensendungen in Zeiten von sozialen Medien, Verschwörungstheorien und so weiter noch wichtiger als zuvor?
Was ich für wichtig halte an dieser Sendung, ist die Tonalität, weil sie Räume im Kopf aufmacht. Was ich aber für noch wichtiger halte in unserer Gesellschaft als das Faktische und Naturwissenschaftliche, ist, dass wir die soziale Grauzone in den Blick nehmen. Wir wissen oft gar nicht mehr, was „sozial” meint – dass wir eine Gemeinschaft sind. Das können wir kaum noch, uns im Alltag wirklich verbinden, verlässlich sein, mit einer Gruppe durch dick und dünn gehen. Dabei ist das am wichtigsten in diesen Zeiten. Aus der Abwesenheit dieser tiefen Verbindungen entstehen auch Verschwörungstheorien. Sie entstehen aus einer Pandemie von Einsamkeit, und die war schon lange vor Corona absehbar, weil wir auf die falschen Werte gesetzt haben. Diese Zwischentöne, das Seelische, sind uns massiv verloren gegangen. Das erblüht in diesen Verschwörungsgeschichten und dann wird versucht, das durch Fakten aufzufangen. Ich kann aber nicht jemanden durch Fakten auffangen, der mir seelisch abhandengekommen ist, weil er sich in der Welt verloren fühlt. Es ist unser Auftrag, dieses Feinstoffliche wieder freizuschalten, und zu verstehen, dass wir nicht erwarten können von Spitzenpolitikern, eine tolle Fehlerkultur vorzuleben, wenn wir das alle im Alltag nicht können, weil jeder sich für die kleinsten Makel schämt.
Wie gehen Sie dann damit um, wenn Sie auf jemanden, der an Verschwörungstheorien glaubt, in Ihrem Umfeld treffen?
Über das fantastische, älteste Element einer sozialen Spezies: über Begegnung. Sozialisierung. Ich gehe in Kontakt. Wenn ich im Taxi sitze und jemand regt sich auf, dann unterhalte ich mich darüber. Am Ende sind wir beide einen Schritt weiter, weil wir uns kennengelernt haben. Das ist unser Problem: Es wird nicht sozialisiert. Wir sind so streng, dass es Leuten kaum noch Spaß macht zu lernen. Auch dass jemand, der sich ärgert, einfach direkt sagt, dass ihn etwas stört oder verletzt, passiert kaum noch. Wenn wir das wieder freischalten, gibt es unfassbare Potenziale, auf Ideen zu kommen. Das halte ich auch bei diesen Querdenkersachen für sinnvoll. Man kann mit allen Menschen reden. Man wird nicht immer weiterkommen, aber deswegen kann man nicht aufhören, es zu versuchen.
Haben Sie sich auch deshalb entschieden, vor einer Weile öffentlich über Ihre Depressionen zu sprechen?
Ja, mein größer Feind in diesem Leben wird die Schamdecke sein, unter der alle westlichen Gesellschaften begraben sind. Scham war ursprünglich ein wichtiges evolutionäres Tool, aber in unseren heutigen Gesellschaftsformen ist sie komplett eskaliert. Keiner traut sich mehr, überhaupt in sich hineinzuspüren. Dafür ist die Depression die absolute Gallionsfigur. Für mich war es ein Genuss zu sagen: Ich schäme mich nicht mehr für meine frühere Depression. Ich will meine Lebenszeit nicht verschwenden mit Scham und Schuld. Wenn das heißt, dass ich mich als bekannte Person vorne hinstelle und sage, dass ich mich nicht schäme und wir bitte mal anfangen, Sachen zu machen, die Spaß machen und allen was bringen, statt unter einer Schamdecke zu sitzen, dann mache ich das gern. Es fühlt sich an wie ein Aufbruch, dass die Leute in ihrem fürchterlichen Seelenzustand sichtbar werden und sagen: Warum soll ich mich zusätzlich zu den Schmerzen, die ich habe, auch noch verstecken?