25 Jahre Elchtest – und was Mercedes daraus gelernt hat
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Vor 25 Jahren legte die schwedische Zeitschrift „Teknikens Värld” die A-Klasse beim sogenannten Elchtest aufs Dach.
© Quelle: Mercedes-Benz AG
Immendingen. Ein umgekippter Wagen sorgte vor einem Vierteljahrhundert für ein Umschwenken einer ganzen Industrie. Sicherheit war nicht mehr nur für hochwertige Autos da. Anlass genug für Mercedes, zum Jubiläum in sein Testzentrum nach Immendingen zu einer Bestandsaufnahme in Sachen Sicherheit zu laden. Mittlerweile lautet bei Mercedes die Zukunftsmaxime: komplette Unfallverhütung. Aber der notorische Test spielt immer noch eine große Rolle.
Was unter dem Namen „Elchtest“ weltberühmt wurde, ist ein Standardtestlauf, der auf den schlichten Namen „Lane Change Test“ (Spurwechseltest, Anm. d. Red.) hört. Dabei fährt ein Testwagen auf einem mit Pylonen eng gesteckten Kurs Slalom, um so das Ausweichen vor (möglicherweise lebenden) Hindernissen zu simulieren.
Als die A-Klasse beim Slalom ausschied
Bei dem Versuch der schwedischen Fachzeitschrift „Teknikens Värld“ im Jahr 1997 kippte dabei eine Mercedes A-Klasse um. Aus dem Super-GAU wurde ein gelungenes Krisenmanagement. Zwar leugnete man zunächst pflichtschuldigst, dass technische Probleme die A-Klasse auf die Seite geschmissen hätten, kam aber schnell zur Räson und sah ein, dass es genau an eben jener Abwesenheit von Technik gelegen hatte. Denn in seiner S-Klasse verbaute Mercedes zum Unfallzeitpunkt bereits zwei Jahre lang serienmäßig EPS.
Der sprichwörtliche Elch, der seinerzeit niemals aus den Wäldern Schwedens preschen musste, um die A-Klasse aufs Kreuz zu legen, steht übrigens als lebensgroßes Crashtesthindernis auf dem Testgelände im baden-württembergischen Immendingen. Hier wird auf rund 33 Hektar so ziemlich alles simuliert, was weltweit mit Straßenverkehr zu tun hat. Das geht von südkoreanischen Fahrbahnmarkierungen bis zu Kinderdummys auf dem Bobby-Car.
Für die Ingenieurinnen und Ingenieure, die in diesem Geheimlabor des Autoherstellers testen, ist die Elchfigur eine Art visualisierter Ansporn. Für Christoph Böhm etwa, der bei Mercedes-Benz die Entwicklung der Fahrdynamiksysteme leitet und sagt: „Sicherheit ist für uns längst eine Passion.“ Diese Passion spiegelt sich technisch in mehr als 40 aktiven Fahrassistenzsystemen oder der besonderen Verkleidung der Batterien wider. Und sie steht auch für das Unternehmensziel „Vision Zero“, das bis 2050 die Zahl der Verkehrstoten auf null bringen und bis 2030 die Zahl der Opfer im Vergleich zu 2020 um die Hälfte verringern möchte.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, weshalb man die Sicherheitssysteme in vier Phasen aufgeteilt hat.
- Phase 1: Beim Fahren assistieren. Hier geht es unter anderem um das Fahrverhalten des Fahrzeugs, Bremssysteme, Lenkung und gute Sicht, auch nachts.
- Phase 2: Auf den möglichen Unfall vorbereiten. Erkennen kritischer Situationen, Verminderung der Unfallschwere.
- Phase 3: Beim Unfall schützen. Verringerung der Unfallfolgen.
- Phase 4: Hilfe nach dem Unfall. Etwa Absetzen eines automatischen Notrufs, schnelle Entlüftung des Innenraums nach Airbag-Auslösung.
Die Ergebnisse im Selbstversuch sind erstaunlich, die Übergänge zwischen Kategorien fließend. Etwa beim klassischen Elchtest. Der Testpilot fährt mit Tempo 70 in die Slalomstrecke ein. Die harschen Lenkeinschläge werden durch die Assistenzsysteme soweit abgefedert, dass der Testwagen, ein EQE, souverän seine Spur zwischen den eng gestellten Pylonen zieht. Der professionelle Fahrer allerdings weiß auch ganz genau, wie er das Auto durch den Parcours zu steuern hat, ohne die Hütchen zu touchieren.
Ordentlich Druck vom Sicherheitsgurt
Doch schon bei dieser rasanten Kurvenfahrt, die die Reifen ordentlich jaulen lässt und den Abrollwiderstand ordentlich belastet, greifen präventive Maßnahmen, die Mercedes Pre-Safe nennt. So schiebt sich der Fahrersitz nach vorn und der Gurtstraffer waltet seines Amtes, was schon für ein deutliches Schmerzempfinden beim Beifahrer sorgt.
Eine Stufe härter wird es, als der Mercedes-Tester mit einem Softwarebefehl, der nur den Fahrzeugentwicklern zur Verfügung steht, sämtliche elektronischen Fahrhelfer ausschaltet. Bei jeder Kurvenfahrt verliert das Auto die Kontrolle, der Gurt nagelt einen an den Sitz. Trotzdem knallt die rechte Schulter bei jeder Gewaltlenkung gegen den Türrahmen. Plötzlich fängt es laut und vernehmlich an zu rauschen.
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Der Elchtest im Jahr 2022: Fahrversuche mit den vollelektrischen Modellen EQE und EQS unterstreichen auch für Laien, wie die Elektronik es schafft, die großen, schweren Autos bei unerwarteten Ausweichmanövern sicher in der Spur zu halten.
© Quelle: Mercedes.Benz AG
Das „rosa Rauschen“, wie es genannt wird, ist Teil der Pre-Safe-Maßnahmen, die greifen, sobald die Elektronik feststellt, dass ein Unfall unvermeidbar scheint. Das Rauschen aus den Lautsprechern soll den sogenannten Stapedius-Reflex auslösen. Durch den Geräuschimpuls zieht sich der Stapedius-Muskel im Innenohr zusammen, der das Innenohr vor Schäden durch erhöhte Schalldruckpegel schützt – und die Insassen vor einem Knallschaden durch die Auslösung der Airbags.
Der Unfall bleibt aus, die Forschung geht weiter
Natürlich kommt es zu keinem Unfall, da der Mercedes-Pilot sein Handwerk beherrscht. Und neben ein paar blauen Flecken bleibt die Erkenntnis, wie lebensbedrohlich Autofahren früher war. Ganz zu schweigen von dem Komfort, den elektronische Fahrhelfer vermitteln – etwa bei Gefahrenbremsungen auf Flächen mit unterschiedlichen Reibwerten. Das können Straßen sein, die teilüberfroren oder nass sind, das kann feuchtes Laub unter den Reifen sein: Die Stabilisierungssysteme schrumpfen die physikalischen Herausforderungen zu kaum spürbaren Ereignissen.
Da können Motorräder, andere Fahrzeuge (beides Fahrzeugdummys, die von einem Mitarbeiterteam ferngesteuert werden) im toten Winkel auftauchen – die Bremsautomatik bringt den EQE ohne Eingriff des Testfahrers zum Stehen. Auch das notorische Kind mit dem Ball, das unvermittelt über die Straße rennt, wird simuliert. Bis zur Marktreife eines Systems oder Fahrzeugs gibt es mehr als 1500 unterschiedliche Simulationssituationen, die von der Elektronik bewältigt werden müssen.
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Auch solche Situationen werden auf dem Testgelände in Immendingen simuliert.
© Quelle: Mercedes.Benz AG
Bevor diese Systeme Fahrende und Beifahrende, Batterien und andere sensible Fahrzeugteile schützen, steht die forensische Unfallforschung. Hier kommt Julia Hinners ins Spiel. Die Entwicklungsingenieurin und Unfallforscherin weiß wohl von den vielen Mitarbeitern in der Fahrzeugentwicklung am besten, wie weit der Weg bis zur „Mission Zero“ noch ist. „Wir können leider noch nicht garantieren, stets einen Unfall verhindern zu können. Wir müssen uns deshalb bis zum Erreichen der Vision unfallfreies Fahren noch auf unterschiedliche Unfallsituationen einstellen.“
Aus der Forschung von Julia Hinners und ihren Kolleginnen und Kollegen wird die vierphasige Sicherheitssystematik technisch entwickelt. So entstehen etwa Beschleunigungssensoren an der B-Säule des Fahrzeugs. So wird festgestellt, ob nach einer Kollision oder bei einem Schleudervorgang unkontrollierte Fliehkräfte entstehen. Dann verifizieren die Airbags, in denen ähnliche G-Sensoren stecken, den Vorgang. Erst dann löst der entsprechende Airbag aus.
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Eine große Herausforderung, aber auch große Möglichkeiten bieten aktuell E-Fahrzeuge bei der Weiterentwicklung aller sicherheitsrelevanter Regelsysteme. Hier ein Blick auf die unterschiedlich gefärbten Metallhärtegrade im Fahrzeug.
© Quelle: Mercedes-Benz AG
Auch auf Themen der passiven Sicherheit für Fußgänger erstreckt sich die Forschung. So entstand etwa die anhebbare und elastische Motorhaube, die den etwaigen Aufprall auf dem Fahrzeug abfedert. All diese Entwicklungen sind im Grunde dem Elchtest zu verdanken – denn erst eine Blamage wie diese weckte die großflächige Verständnis für die Notwendigkeit von Fahrzeugsicherheit, egal, in welcher Klasse.
Der Elch dürfte also in Zukunft nur noch als Standfigur in Immendingen eine Rolle spielen.