Warum ICE 884 entgleiste – und was die Bahn daraus (noch nicht) gelernt hat
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Verunglückter ICE vor Eschede: Die Ursache war ein gebrochener Radreifen.
© Quelle: Holger Hollemann / dpa
Hannover. Die Vorgeschichte des ICE-Unglücks von Eschede begann im September 1991, mit einer Mail des Bahnvorstands Roland Heinisch an Bahnchef Heinz Dürr. Heinisch war damals gerade von Stuttgart nach Frankfurt gereist, er hatte im Speisewagen gesessen und war unzufrieden mit dem, was ihm der ICE, das erst wenige Monate zuvor eingeführte Vorzeigeprojekt der Bahn, an Komfort bot.
„Das Dröhnen und Scheppern war so stark und so beängstigend“, schrieb Heinisch, „dass nach meiner Einschätzung bei längerem Anhalten nicht nur mit großen negativen Reaktionen oder Kunden (und der veröffentlichten Meinung), sondern auch mit echten Schäden an Einrichtungen im Wagen zu rechnen ist.“ Nötig seien, forderte Heinisch, „sofort konkrete Abhilfemaßnahmen“.
Zu kurze Testphase
Gut ein Jahr später glaubt die Bahn, das Problem gelöst zu haben. In seiner Sitzung am 5. Oktober 1992 beschließt der Vorstand die Einführung gummigefederter Räder im ICE. Dabei handelt es sich um Stahlräder mit einem Gummimantel, über den noch mal ein dünner Stahlreifen gezogen wird, der Radreifen. Die neuen Räder beenden das störende Dröhnen, günstiger als die bisherigen Vollmetallräder sind sie obendrein – die ideale Lösung scheint gefunden. Technische Bedenken gegen die Konstruktion gebe es nicht. Es spreche „nichts gegen ihre Zulassung für den ICE“, heißt es in der Beschlussvorlage für den Vorstand – doch so einfach ist es nicht.
Die Testphase von nur einem Jahr gilt als eigentlich zu kurz, auch gab es im Frühjahr 1992 einen Riss an einem Radreifen. Doch Ingenieure und Vorstand verwerfen alle Zweifel; das Risiko, das sich aus der kurzen Testphase ergibt, stufen sie als tragbar ein. Niemand, so scheint es, will sich dem Erfolg des Projekts ICE in den Weg stellen.
Die Spitze bohrt sich durch den Abteilboden
Auch sechs Jahre später, unmittelbar vor dem Unglück, gibt es Hinweise auf technische Fehler. Als die Techniker am Abend des 2. Juni 1998 im Münchner Betriebswerk den ICE prüfen, stellen sie eine Unwucht im Radreifen Nummer 1591 fest, eine Abweichung vom normalen runden Lauf von gut einem Millimeter – deutlich über dem zulässigen Grenzwert. Bereits in den Wochen zuvor hatten Zugbegleiter insgesamt achtmal einen unruhigen Lauf moniert. Doch der ICE 884 wird mit seinem alten Radreifen noch mal auf die Reise geschickt.
Entgangen war den Prüfern in München ein feiner, mit bloßem Auge nicht zu erkennender Riss. Er bewirkt, dass der Radreifen ungefähr fünf Kilometer vor Celle bricht. Eine Spitze des Radreifens bohrt sich durch den Boden des Waggons. Die Menschen im Abteil schrecken auf, ein Passagier informiert den Zugbegleiter – doch bevor der sich den Schaden ansehen und die Notbremse ziehen kann, ist das Unglück bereits nicht mehr abzuwenden. Der gebrochene Radreifen schlägt gegen eine Weiche, der 400 Meter lange Zug entgleist bei Tempo 200 unmittelbar vor einer Brücke. Während die ersten Waggons noch unter dem Bau hindurchkommen, bringt ein folgender schlingernder Waggon die Brücke zum Einsturz. Die Wagen fünf und sechs werden von den Trümmern zerdrückt, die folgenden Wagen schiebt der hintere Antrieb zusammen, manche ragen bis zu zehn Metern in die Höhe. 101 Menschen sterben, 105 werden verletzt.
25 Jahre Zugunglück in Eschede: Was war, was ist und was werden soll
Es ist noch immer das größte Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik: Das Zugunglück von Eschede. 101 Menschen sterben. Was erinnert noch heute daran?
© Quelle: Sebastian May
Der „Titanic“-Moment der Bahn
Das ICE-Unglück von Eschede ist so etwas wie der „Titanic“-Moment der Bahn – die größtmögliche Katastrophe, die zuvor doch niemand für möglich gehalten hatte. Jetzt zieht das Unternehmen unmittelbare Konsequenzen. Die gummigefederten Radreifen werden aus dem Verkehr gezogen und sind seitdem nach Bahnangabe nie wieder zum Einsatz gekommen. Ultraschallprüfungen der Räder werden zur Pflicht. Zudem gibt es die Vorgabe, Weichen vor Brücken künftig zu vermeiden.
Nicht nur dadurch sehen Experten die Sicherheit von Zügen seitdem erheblich verbessert. Entscheidend, so Professor Markus Hecht von der Technischen Universität Berlin, „war die Umstellung vom deutschen System der nachträglichen Fehleranalyse und Fehlerkorrektur hin zur präventiven Fehleranalyse auf europäischer Ebene.“ Während also nach deutscher Logik zunächst ein Unglück geschehen musste, dessen Ursachen man dann abstellt, würden inzwischen im Vorhinein denkbare Risiken berechnet und möglichst minimiert – ein Verdienst vor allem der Europäischen Eisenbahnagentur, die seit 2006 maßgeblich für den Schienenverkehr in Europa zuständig ist. Bewährt habe sich diese veränderte Philosophie, so paradox es klingt, zum Beispiel 2016 in Bad Aibling, als bei einer Kollision zweier Züge zwölf Menschen starben. Ein schrecklicher Unfall, betont Hecht – „aber ohne die EU-Vorschriften, etwa zur Crashsicherheit, hätte es vermutlich fünfmal so viele Tote gegeben“.
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Der Tag, an dem Eschede seine Leichtigkeit verlor
Der Name ist untrennbar mit dem schwersten Eisenbahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik verbunden. Doch nach 25 Jahren sind es viele in Eschede leid, darauf reduziert zu werden. Über einen Ort, der nicht mehr stellvertretend für alle trauern will.
Pünktlichkeit macht sicherer
Dennoch sieht Hecht auch in Deutschland noch erheblichen Verbesserungsbedarf. Als Schwachpunkt sieht er dabei ausgerechnet jenen Makel, für den die Bahn in Deutschland ohnehin massiv in der Kritik steht: die vielen Verspätungen. Diese seien nicht nur ein Ärgernis – sondern auch eine Gefahr: „Sicherheit und Pünktlichkeit weisen in dieselbe Richtung“, betont Hecht. „Je pünktlicher die Züge sind, desto sicherer ist auch das gesamte System.“
Und noch eine deutsche Eigenart schadet aus seiner Sicht der Bahnsicherheit hierzulande. So wurde zum Beispiel nach dem Unglück von Bad Aibling der zuständige Fahrdienstleiter verurteilt, weil er von einem Handyspiel abgelenkt gewesen sein soll und so den Zusammenstoß verursacht habe. Der eigentliche Fehler liege jedoch im System: „In Deutschland geben wir uns viel zu leicht damit zufrieden, einen Schuldigen zu suchen und zu bestrafen“, erklärt Hecht, „anstatt dafür zu sorgen, dass ein Einzelner gar nicht so folgenschwere Fehler begehen kann.“