100 Jahre Sowjetunion: Wie ein totes Imperium zur Mutter aller Krisen wurde
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Eine Frau trägt auf einer Demonstration in Moskau, Russland, ein Bild des ehemaligen sowjetischen Diktators Josef Stalin.
© Quelle: picture alliance / dpa
Die Sowjetunion lebt – auch 31 Jahre nach ihrem Untergang. Sie lebt in den täglichen Nachrichten, wo uns der Krieg in der Ukraine oder drohende Konflikte im Südkaukasus beschäftigen. Die Sowjetunion lebt, wenn in Ostdeutschland Menschen ein besseres Verhältnis zu Russland fordern oder mit der hiesigen Demokratie hadern. Sie lebt beim Blick in die olympische Chronik, wo 1010 Medaillen für alle Ewigkeit auf das Konto dieses längst untergegangenen Landes gehen.
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Die Sowjetunion lebt in gut zwei Dutzend Nobelpreisträgern, sie lebt beim Blick in den Himmel, wo mit Juri Gagarin 1961 erstmals ein Mensch ins Weltall aufbrach, sie lebt in den Büchern von Boris Pasternak und Michail Bulgakow, in den Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch, den Gedichten Maxim Gorkis, den Filmen Sergej Eisensteins. Sie lebt sogar im Internet, wo dem Land, welches am 26. Dezember 1991 unterging, bis heute die länderspezifische Topdomain mit dem Kürzel .su reserviert ist.
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Das Archivbild vom April 1961 zeigt den sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin in seinem Raumanzug kurz vor seinem Start zum ersten bemannten Weltraumflug vom Weltraumbahnhofs Baikonur.
© Quelle: picture alliance / Lehtikuva/dpa
Vor 100 Jahren, am 30. Dezember 1922, gründeten nach einem kurzen Frühling der Autonomie die aus dem zerfallenden Zarenreich hervorgegangen Sowjetrepubliken Russland, Ukraine, Weißrussland und Transkaukasien den neuen Superstaat, Sowjetunion genannt. Zwei Ideen standen an der Wiege dieses Projektes Pate: Wladimir Iljitsch Lenin, der durch ein Attentat gesundheitlich geschwächte starke Mann der Russischen Sowjetrepublik, plädierte für einen freiwilligen Zusammenschluss von Republiken, denen eine begrenzte Autonomie zugestanden werden sollte. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Russlands, Joseph Stalin, wollte dagegen den Anschluss dieser Länder an Russland, um alle Macht in Moskau zu konzentrieren.
Lenins Idee setzte sich durch. Der bis dato russische Vielvölkerstaat sollte zu einer Vielrepublikenunion nach amerikanischem Vorbild werden. Doch eine Autonomie, die diesen Namen auch verdient, wurden den Teilrepubliken in dieser neuen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in Wahrheit nie gewährt. Dafür wurde bereits damals der Grundstein für all die Probleme gelegt, die uns noch heute beschäftigen: Die administrativ diktierten Grenzen dieser Republiken bilden bis heute eine toxische Hinterlassenschaft.
Moskau veranstaltet Trauerfeier für Michail Gorbatschow
In Moskau findet am Samstag die Trauerfeier für den verstorbenen früheren sowjetischen Staatschef Gorbatschow statt.
© Quelle: Reuters
„In diesem Krieg steckt jede Menge Sowjetunion“, so Prof. Jörg Baberowski, Historiker an der Berliner Humboldt-Universität, mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Das problematische Erbe der fast 70‑jährigen Existenz des einst größten und mächtigsten Staates der Erde, „betrifft in den Nachfolgestaaten beispielsweise das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung und zu ihren Mitmenschen. Durch die lange Geschichte von Terror, Gewalt und Krieg haben sie die Erfahrung gemacht, dass jeder Frieden, ob im Inneren oder nach außen, brüchig ist. Diese Erfahrung hat sie konservativ gestimmt, sie misstrauisch werden lassen. Sie sind weniger offen für liberale Demokratieexperimente“, beschreibt Prof. Baberowski.
Mal abgesehen von den drei baltischen Republiken gibt es heute keinen postsowjetischen Nachfolgestaat, in dem sich ein liberales Demokratiemodell etablieren konnte.
Prof. Jörg Baberowski,
Historiker an der Berliner Humboldt-Universität
Deshalb gehört es auch zur Hinterlassenschaft der Sowjetunion, „dass es, abgesehen von den drei baltischen Republiken, heute keinen postsowjetischen Nachfolgestaat gibt, in dem sich ein liberales Demokratiemodell etablieren konnte“, so der Historiker.
Ein 70 Jahre währender Albtraum?
War die Existenz des ersten sozialistischen Staates der Menschheitsgeschichte also lediglich ein 70Jahre währender Albtraum, ein dunkles Kapitel Menschheitsgeschichte, welches Historikern zufolge bis zu 60 Millionen Gewaltopfer forderte? Doch das allein wäre zu kurz gegriffen.
„Für die Menschen in Westeuropa ging von der jungen Sowjetunion, vor allem zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 20er-Jahren, durchaus eine Faszination aus. Weil die Kommunisten den Beweis zu erbringen schienen, dass sich die Anarchie der Märkte doch zähmen und Massenarbeitslosigkeit beseitigen ließ. Das bolschewistische Projekt war ein anderer, scheinbar erfolgreicher Weg der Modernisierung. Auch verstanden viele die Sowjetunion als Gegenentwurf zum aufstrebenden Faschismus in Europa, was sich angesichts des Stalin’schen Terrors aber als Illusion erweisen sollte“, so Baberowski.
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Deutlich mehr illegale Migration: die vielen Wege nach Europa
Die Zahl illegaler Grenzübertritte in die EU hat gegenüber dem Vorjahr um 77 Prozent zugenommen. Wie schon 2021 drängen wieder verstärkt Flüchtlinge aus Belarus nach Polen, von denen die meisten weiter nach Deutschland wollen. Die Grünen-Politikerin Karin Göring-Eckardt kritisiert das polnische Grenzregime als „unwürdig“.
Deshalb glaubt der Berliner Historiker, dass die heutige Sowjet-Nostalgie in Russland, aber auch in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken, nicht allein mit einem kollektiven Ausblenden der Realitäten zu erklären sei. „Viele Menschen haben gute Erinnerungen, vor allem an die letzten drei Jahrzehnte der Sowjetunion. Denn die Herrschaft des Terrors ging mit Stalins Tod im März 1953 zu Ende. Danach verwandelte sich totalitäre in autoritäre Herrschaft, wurde berechenbar und für Menschen, die den Terror erlebt hatten, halbwegs erträglich. Das lag sicher auch am bescheidenen Wohlstand, der sich nun einstellte.“
Doch Russlands Aggression gegen die Ukraine ist nicht die einzige kriegerische Hinterlassenschaft der Sowjetunion, die die Welt in Atem hält.
Prof. Jörg Baberowski,
Historiker an der Berliner Humboldt-Universität
Die wenigen positiven Ansätze – sie werden überlagert durch den schrecklichen Krieg, den Russlands Präsident auch mit dem Vorsatz vom Zaun gebrochen hat, den 1991 erfolgten Untergang der Sowjetunion, den er als „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, rückgängig zu machen.
In Wladimir Putins Ansatz, anderen Nationen das Existenzrecht abzusprechen, um sie in einer großen Völkergemeinschaft zu assimilieren, also aufgehen zu lassen, zur Not eben auch gewaltsam, sieht der Berliner Historiker ganz direkt den sowjetischen Nationengedanken verwirklicht. „Doch Russlands Aggression gegen die Ukraine ist nicht die einzige kriegerische Hinterlassenschaft der Sowjetunion, die die Welt in Atem hält. Zwischen Armenien und Aserbaidschan gibt es Krieg, Südossetien und Abchasien haben sich mit russischer Hilfe von Georgien gelöst, Moldau hat keine Kontrolle über Transnistrien, in Kirgistan und Tadschikistan wird um Territorien gestritten und gekämpft.“
Die Hinterlassenschaft des ersten sozialistischen Staates der Welt – sie wird die Menschheit wohl noch lange beschäftigen.