Berg-Karabach-Konflikt: wie Armenien Aserbaidschan entgegenkommt
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Der Latschin-Korridor, die einzige Straße, die Armenien mit Berg-Karabach verbindet, ist seit Dezember 2022 durch bewaffnete aserbaidschanische Kräfte abgeschnitten, sodass die Bevölkerung der Region ohne Versorgung ist.
© Quelle: Gilles Bader/Le Pictorium Agency
Berlin. Armenien ist bereit, die seit Jahrzehnten umkämpfte Region Berg-Karabach im Südkaukasus als Teil des benachbarten Aserbaidschan anzuerkennen. Zu den 86.600 Quadratkilometern Fläche, die Armenien als aserbaidschanisches Territorium anerkennt, gehöre auch Berg-Karabach, sagte Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan in dieser Woche und bezog damit eine neue Position. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sprach dazu mit dem armenischen Botschafter in Berlin, Viktor Yengibaryan.
Herr Yengibaryan, warum hat Ihr Land jetzt diesen Vorstoß unternommen?
Territoriale Ansprüche hatte die Republik Armenien niemals, seit Ende der 1980er-Jahre ging es immer um Menschenrechte und die Sicherheit in Berg-Karabach. Daran halten wir auch jetzt streng fest.
Die beiderseitige Anerkennung der Grenzen ist die wichtigste Grundlage für einen Friedensvertrag. Die ehemaligen Verwaltungsgrenzen aus der Zeit vor 1991, als beide Ländern noch Bestandteil der Sowjetunion waren und die in der Alma-Ata-Erklärung von 1991 als internationale Grenzen anerkannt wurden, sollten als Grundlage für die heutige Trennlinie gelten.
Demnach verfügt Aserbaidschan über 86.600 Quadratkilometer und Armenien über 29.800 Quadratkilometer.
Viktor Yengibaryan (41) ist seit November 2021 armenischer Botschafter in Deutschland.
© Quelle: Botschaft der Republik Armenien
Gibt es denn aktuell unterschiedliche Auffassungen zum Grenzverlauf?
Während des Krieges 2020 und im Verlauf der zweitägigen aserbaidschanischen Angriffe im September 2022 mit 200 Toten hat es immer wieder Grenzverletzungen gegeben. Es gibt armenische Regionen, wo aserbaidschanische Truppen zehn Kilometer tief im Territorium unseres Landes stehen. Das ist nicht zu akzeptieren, und deshalb drängen wir auf eine international anerkannte Grenzfestlegung.
Wir sind sehr dankbar dafür, dass die EU seit Ende Januar eine Beobachtermission mit etwa 100 Kräften in unserem Land begonnen hat, denn das vermindert das Risiko neuerlicher Aggressionen von außen.
Die von etwa 120.000 Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach war zu Sowjetzeiten eine autonomer Teil Aserbaidschans und erklärte sich 1991 für unabhängig. Armenier riefen die Republik Arzach aus, die international nicht anerkannt ist und um die es bis heute blutigen Streit gibt. Wird Armenien nun seine Unterstützung für Berg-Karabach aufgeben?
Nein, davon kann keine Rede sein. Der Konflikt muss endlich friedlich gelöst werden, aber ein wichtiger Bestandteil dessen sind die Rechte und die Sicherheit der Armenier in Berg-Karabach. Seit Anfang Dezember 2022 wird die Bevölkerung von Berg-Karabach faktisch durch bewaffnete aserbaidschanische Kräfte belagert, indem man die einzige Zufahrtsstraße zwischen Armenien und der Region, den Latschin-Korridor, mit einem Grenzkontrollpunkt verschlossen hat. Es kommt niemand mehr hinein und niemand heraus.
Selbst das Internationale Rote Kreuz muss sich immense Mühe geben, damit schwer kranke Menschen zur Behandlung evakuiert werden dürfen. Das ist eindeutig rechtswidrig und verstößt auch gegen den am 9. November 2020 unter Vermittlung Russlands zustande gekommenen Waffenstillstand.
Übrigens ist die Gewährleistung der Sicherheit und der Rechte der Menschen in Berg-Karabach nicht nur eine Angelegenheit von Armenien, sondern von allen Staaten, die Respekt vor Menschenrechten und dem Völkerrecht haben.
Eigentlich sollte doch die nach Berg-Karabach entsandte 2000 Mann starke russische Friedentruppe auch den Latschin-Korridor sichern.
Ja, aber wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass der Korridor leider nicht mehr unter Kontrolle der Friedenstruppen ist, weil er von Aserbaidschan gesperrt wurde. Wir wollen alle bestehenden Probleme ohne Gewalt lösen, deshalb hoffen wir auf internationale Mechanismen zur Lösung dieser Situation.
Die Tatsache, dass wir keinen territorialen Anspruch haben, darf nicht bedeuten, dass wir tatenlos zusehen, wie die armenische Bevölkerung aus der Region vertrieben wird, indem man sie immer weiter unter Druck setzt, wie mit dieser Blockade. Das läuft auf eine ethnische Säuberung hinaus.
Vertreter Aserbaidschans sagen, sie bieten jedem dort lebenden Armenier die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft an und alles ließe sich einfach lösen.
Wir denken, dass sollten Vertreter der Region Berg-Karabach und Aserbaidschans in bilateralen Verhandlungen besprechen, die durch eine internationale Beteiligung transparent gemacht werden müssen. Wir wollen die Beziehungen zu Aserbaidschan in jeder Hinsicht normalisieren. Seit 1991 gibt es nur geschlossene Grenzen, keine diplomatischen Beziehungen, keine direkte Kommunikation, keine Eisenbahnverbindung, keine Autobahn. Wir meinen, dass sollte sich ändern zum gegenseitigen Vorteil.
Armenien ist Mitglied in dem von Russland angeführten Militärbündnis OVKS, das jedoch nicht bereit war, im Konflikt mit Aserbaidschan helfend einzugreifen. Wird Armenien womöglich austreten?
Wir brauchen gar nicht auszutreten, denn die OKVS tritt langsam aus Armenien aus. Das Bündnis hilft uns – auch politisch – nicht dabei, unsere Grenzen zu schützen. Ein Bündnis, das sich nicht einmal festlegen will, wo die Grenzen eines seiner Partner verlaufen – das kann nicht funktionieren.
Am 1. Juni findet in Moldaus Hauptstadt Chisinau ein europäischer Gipfel statt, bei dem es am Rande auch um den Konflikt Armenien-Aserbaidschan gehen wird. Was erwarten Sie davon?
Es wird ein fünfseitiges Treffen sein: Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, unser Premier Nikol Paschinjan, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, EU-Ratspräsident Charles Michel und Bundeskanzler Olaf Scholz. Wir erhoffen uns von diesem Gespräch ein klares Bekenntnis zur Souveränität unseres Landes und zur Durchsetzung des Völkerrechts in unserer Region. An erster Stelle steht die Delimitierung und Demilitarisierung der Grenzen sowie die Verteidigung der Rechte der Bevölkerung von Berg-Karabach.
Haben Sie eine besondere Erwartung an Bundeskanzler Olaf Scholz?
Im Rahmen der Verhandlungen, vermittelt durch der Europäischen Union, hat es in den letzten Jahren mehrere konkrete Absprachen mit Aserbaidschan gegeben, die nicht umgesetzt worden sind. Es wäre gut, wenn Deutschland uns stärker dabei helfen könnte, völkerrechtliche Vereinbarungen durchzusetzen, um den Frieden in der Region zu sichern.
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Ebenso schwierig wie mit Aserbaidschan sind die Beziehungen Armeniens mit dem anderen Nachbarland Türkei. Sehen Sie da Möglichkeiten einer Normalisierung?
Während des schweren Erdbebens im Februar in der Türkei haben wir materielle Hilfe geleistet. Dazu wurde erstmals nach Jahrzehnten die Brücke über den Grenzfluss Arax wieder für den Lkw-Verkehr freigegeben. Aber das war eine Eintagsfliege. Wir haben in der Vergangenheit mehrfach versucht, diplomatische Beziehungen aufzunehmen und eine Grenzöffnung herbeizuführen. Leider vergeblich. Wir sind sehr an einer Normalisierung mit der Türkei interessiert, sind bereit, die Gespräche weiterzuführen und hoffen, dass noch in diesem Sommer die Grenze für Bürger aus Drittstaaten und Diplomaten geöffnet werden kann.
Allgemein heißt es, die Beziehungen lassen sich nicht verbessern, weil die Türkei nicht bereit ist, den im Osmanischen Reich begangenen Völkermord an über einer Million Armeniern als Genozid anzuerkennen.
Wir haben keinerlei Vorbedingungen zur Aufnahme von Gesprächen gestellt.