Der Krieg und die Folgen: „Frontbegradigung“ bei der SPD
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Wladimir Klitschko (rechts) beim Besuch von Lars Klingbeil (links) und Rolf Mützenich in Kiew.
© Quelle: Fion Große
Liebe Leserin, lieber Leser,
keine andere Partei außer der Linken wurde vom russischen Angriff auf die Ukraine derart kalt erwischt wie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Denn wenig ist so tief in die Identität der SPD eingesickert wie die von Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik der 1970er-Jahre. Ihr fühlten sich viele Genossinnen und Genossen gegenüber Russland auch noch verpflichtet, als dessen Präsident Wladimir Putin nach innen immer autoritärer herrschte und nach außen sowohl in Tschetschenien als auch in Syrien und ab 2014 in der Ostukraine keinen Zweifel an seiner Brutalität ließ. Erst nach dem am 24. Februar 2022 begonnenen Überfall auf das Nachbarland dämmerte vielen Entscheidungsträgern, dass da etwas nicht stimmen kann.
Darum findet in der SPD seit einiger Zeit etwas statt, was man militärisch gesprochen wohl eine „Frontbegradigung“ nennen würde. Die Partei versucht, ideologischen Ballast abzuwerfen. Der jüngste Besuch des taktgebenden SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist ein weiterer Beleg dafür. Klingbeil fallen Wendemanöver mit 45 Lebensjahren noch relativ leicht; er trägt weniger Ballast mit sich herum. Dass der Chef der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, ihn begleitet, mutet schon fast wie eine Sensation an. Immerhin hatte Mützenich ukrainischen Stellen noch im Herbst vorgeworfen, ihn auf eine „Terrorliste“ gesetzt zu haben.
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Rolf Mützenich und Lars Klingbeil im Zug nach Kiew.
© Quelle: Fionn Große
Die „Frontbegradigung“ begann mit der „Zeitenwende“-Rede von Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag, in der dieser das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr verkündete. Es setzte sich fort mit dem Parteiausschlussverfahren gegen Altkanzler Gerhard Schröder wegen dessen anhaltender Putin-Nähe, das zuletzt allerdings auch in der zweiten Instanz niedergeschlagen wurde.
Als Teil der Läuterung wird man ferner die Kiew-Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Oktober begreifen müssen. Nein, er reiste dorthin nicht als Parteipolitiker, sondern als Staatsoberhaupt. Das ändert am Resonanzboden freilich nichts. Steinmeier hatte als Schröders Kanzleramtschef sowie als späterer Außenminister und SPD-Fraktionsvorsitzender gute Kontakte zu Putin und dessen Außenminister Sergej Lawrow. Er hat deshalb einige Zeit gebraucht, um aus dem Schatten der eigenen Politik herauszutreten.
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Hatte als Kanzleramtschef und Außenminister gute Kontakte nach Russland, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Es brauchte deshalb einige Zeit bis zu diesem Handschlag.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
In Mecklenburg-Vorpommern ist Ministerpräsidentin Manuela Schwesig unterdessen damit beschäftigt, jene „Klimastiftung“ aufzulösen, die mit Zuschüssen des russischen Energieriesen Gazprom die Ostseepipeline Nord Stream 2 vorantreiben sollte. Dummerweise will Schwesigs Vorgänger und Stiftungschef Erwin Sellering nicht so, wie sie will. Das sorgt für anhaltende Schlagzeilen.
Wie schwer das Umsteuern manchen fällt, demonstrierte eine Diskussionsveranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion am Montag voriger Woche, zu der mit folgenden Worten geladen wurde: „Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine entzieht der internationalen Sicherheitsarchitektur den Boden und macht ein außen- und sicherheitspolitisches Umdenken notwendig.“
Zwar warb Verteidigungsminister Boris Pistorius, der sich selbst in der Tradition des früheren Verteidigungsministers und späteren Kanzlers Helmut Schmidt sieht, für eine starke Bundeswehr. „Ein Autokrat einer Großmacht reicht, um alle Gewissheiten auf die Probe zu stellen“, sagte Pistorius. Und: „Deutsche Waffen retten Leben in der Ukraine.“ Mützenich sagte mit Blick auf die Ukraine: „Das Selbstverteidigungsrecht muss ausgeübt werden“, und betonte: „Auch ich habe Fehler, auch ich habe Versäumnisse zu bekennen.“
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Wirbt für eine starke Bundeswehr: Verteidigungsminister Boris Pistorius (hier bei seinem Besuch bei der Deutschen Marine in Eckernförde).
© Quelle: IMAGO/Chris Emil Janßen
Welche Fehler das sind, sagte er indes nicht – und beklagte zudem, das Eingestehen von Fehlern sei zu einer Art Mode geworden. Der SPD-Politiker stellte schließlich klar: „Die Entspannungspolitik trägt nicht die Verantwortung für den Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine. Dies hat allein Präsident Putin zu verantworten.“
Der 63-Jährige, der sich zeitlebens mit Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle beschäftigt hat, findet sich in der neuen Welt nur schwer zurecht. Ähnliches gilt für den gleichaltrigen SPD-Linken Ralf Stegner, der feststellte: „Es gibt keine sauberen Kriege. Jeder Tag, an dem der Krieg früher aufhört, ist ein guter Tag, weil weniger Menschen sterben müssen.“ Sie bemühen sich, aus dem Feuer des Krieges noch ein paar Überzeugungen zu retten. Es soll nicht alles umsonst gewesen sein.
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Wenig ist so tief in die Identität der SPD eingesickert wie die von Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik der 1970er-Jahre (hier 1979 in Bonn).
© Quelle: Heinz Wieseler/dpa
Die SPD fand bei der Diskussionsveranstaltung nicht den Mut, Pistorius auf der einen und Mützenich oder Stegner auf der anderen Seite gemeinsam auf ein Podium zu setzen. Dann wären fortexistierende Unterschiede offener zutage getreten. Stattdessen luden sie den Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München ein; er trug gewissermaßen Pistorius’ Argumente vor.
Doch die Partei möchte immerhin mit den eigenen Irrtümern ins Reine kommen. Willy Brandt kann dabei gewiss hilfreich sein. Er sagte einst: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“
Bittere Wahrheit
Wir dürfen jetzt auch sauer sein, und ich finde, wir sind auch zu Recht sauer.
Katina Schubert
Vorsitzende der Berliner Linken
Allzu viele Gefühle sind für Berufspolitiker eher hinderlich. Schließlich gehören Konflikte aller Art zum Alltag derselben. Wer darauf stets emotional reagieren wollte, der täte zumindest sich selbst und seiner Gesundheit keinen Gefallen. In Berlin allerdings ist jetzt echter Zorn spürbar.
Dass die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) ihren bisherigen Koalitionspartnern, den Grünen und den Linken, die kalte Schulter zeigt und sich in Gestalt der CDU einem anderen Partner zuwendet, löst bei den Verstoßenen jene Fassungslosigkeit aus, die man aus Scheidungskriegen kennt. Umso mehr ist Giffey nun zum Erfolg mit ihrem neuen politischen Ehepartner Kai Wegner verdammt. Ein Zurück gibt es nicht mehr.
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Die Vorsitzende der Berliner Linken, Katina Schubert.
© Quelle: Annette Riedl/dpa/Archivbild
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD in Berlin heißt es am Freitag im Schweizer „Tages-Anzeiger“.
„Neuer Regierender Bürgermeister dürfte also der 50-jährige Kai Wegner werden – 21 Jahre, nachdem der letzte CDU-Stadtobere Eberhard Diepgen sein Amt abgegeben hat. Da Wegner jede Regierungserfahrung fehlt, wird die gewiefte (SPD-Politikerin Franziska) Giffey im Senat aber auch ohne Bürgermeisterwürde die starke Frau bleiben.
Die überraschende Rochade in Berlin sendet bereits politische Signale ins ganze Land. SPD und Grüne, einst ‚natürliche Partner‘, sehen sich immer häufiger als Rivalen um die Vorherrschaft im linken Lager und belauern sich, statt vertraulich zusammenzuarbeiten. Längst hat diese Entwicklung auch die Bundesregierung erfasst. Die Grünen tun sich weiterhin schwer, sobald sie betont ideologisch auftreten. Die CDU schließlich erhält in Berlin endlich wieder einmal die Chance, zu beweisen, dass sie auch Großstadt kann – zumindest, wenn die Linken dort zuvor abgewirtschaftet haben.“
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Dürfte nächster Regierender Bürgermeister Berlins werden: Kai Wegner, Landesvorsitzender der CDU Berlin.
© Quelle: Monika Skolimowska/dpa/Archiv
Zum Jahrestag der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum russischen Überfall auf die Ukraine im Bundestag, in der er erklärte, dass Berlin seine Abhängigkeit von russischem Gas beenden und die Ukraine militärisch unterstützen wolle, schreibt die französische Tageszeitung „Le Monde“
„Für ein Land, das damals 55 Prozent seines Gases aus Russland importierte, sich weigerte, Waffen an Krieg führende Staaten zu liefern, und seine Verteidigungspolitik jahrelang vernachlässigt hatte, war dies eine große Ankündigung. Als der Krieg nach Europa zurückkehrte, zeigte Deutschland, dass es bereit war, die Komfortzone zu verlassen, in der es seit mehr als einem halben Jahrhundert verharrte: die eines wirtschaftlichen Riesen und geopolitischen Zwergs.
Seine Versprechen im Energiebereich hat es gehalten – und das ist eine Meisterleistung. Ansonsten ist die Bilanz gemischter. Mehr als seine Entschlossenheit hat sich das Zögern Berlins bei der Unterstützung Kiews eingeprägt, insbesondere bei der Entsendung von Leopard-Kampfpanzern, die Ende Januar nach langen Verzögerungen beschlossen wurde. Was das Aufrüsten der Bundeswehr betrifft, ist es zwingend notwendig, einen Gang höher zu schalten.“
Das ist auch noch lesenswert
Meine sehr erfahrene Kollegin Kristina Dunz kümmert sich bei uns um das Kanzleramt und die Kanzlerpartei SPD. Jetzt ist sie mit dem SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Fraktionschef Rolf Mützenich in die ukrainische Hauptstadt Kiew gefahren. Das ist ihr erster Bericht: Ukraine: Klingbeil und Mützenich in Kiew – erster Besuch seit Kriegsbeginn
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Sagte vergangene Woche im RND-Interview: „Die Menschen haben Bock auf anständige Bezahlung“, Arbeitsminister Hubertus Heil.
© Quelle: IMAGO/Christian Spicker
Alisha Mendgen und Tim Szent-Ivanyi haben Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) interviewt. Der spricht über den Sozialstaat, die Rentner und worauf Arbeitnehmer Bock haben. Dabei fährt er eine Retourkutsche gegen den Hauptgeschäftsführer der Arbeitgebervereinigung BDA, Steffen Kampeter. Dieser hatte die Menschen im Land kürzlich zu „mehr Bock auf Arbeit“ aufgefordert. Hubertus Heil im Interview: „Die Menschen haben Bock auf anständige Bezahlung“ (+). Mit der Frage, ob eine Viertagewoche der Ausweg aus der Debatte ist, haben sich Imre Grimm und Andreas Niesmann in einem Pro und Contra auseinandergesetzt – beide argumentationsstarke und wortgewaltige Kollegen. Lesen Sie selbst und schlagen Sie sich danach gern auf die eine oder andere Seite. (+)
Sahra Wagenknecht sorgt in der Linken für Ärger, jetzt wegen des Streits um den russischen Angriff auf die Ukraine. Mein Kollege Jan Emendörfer hat sich ihren politischen Lebensweg daraufhin noch einmal genauer angesehen. Und siehe da: Er ist mit Ärger gepflastert.
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Donnerstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Eva Quadbeck. Bis dahin!
Herzlich
Ihr Markus Decker
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