Russlands Krieg und „Bellizisten“ wider Willen
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Verteidigungsminister Boris Pistorius besuchte vergangene Woche das Panzerbataillon 203 in Augustdorf.
© Quelle: IMAGO/Chris Emil Janßen
Liebe Leserin, lieber Leser,
als der Verteidigungsminister in der vorigen Woche das Panzerbataillon 203 der Bundeswehr im westfälischen Augustdorf besuchte, da hätte die Szene kaum depressiver erscheinen können. Der Himmel mutete schon in der Mittagszeit düster an. Ein böiger Wind verteilte Nieselregen übers Land. Und bis zum Horizont des riesigen Truppenübungsplatzes erblickte das Auge des Beobachters nur matschigen braun-grauen Boden, aus dem hier und da unwirtliche Nadelhölzer wuchsen.
Nirgends waren Menschen zu sehen – außer den Besatzungen der beiden Leopard-2-Panzer, die vor Dutzenden Fotografen und Kamerateams den Krieg übten, als handele es sich um einen Science-Fiction-Dreh. Ein japanisches Fernsehteam war eigens aus London angereist, um die plötzlich weltweit begehrten „main battle tanks“ aus deutscher Herstellung zu filmen.
Die erstaunlich wendigen Leoparden fuhren mehrmals vor den Medienmenschen auf und ab. Motoren heulten. Übungsmunition knallte. Weißer Rauch bildete eine Wand. Schließlich stieg Boris Pistorius in eines der 62 Tonnen schweren Kettenfahrzeuge und brauste mit den Soldaten davon, bis weder Panzer noch Minister zu sehen waren. Der SPD-Politiker wirkte wie vom Erdboden verschluckt.
Pistorius fordert schnellen Ersatz für Leoparden-Panzer
Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius nimmt die Kampfpanzer, die schon bald an die Ukraine gehen, quasi selbst ab – inklusive Testfahrt.
© Quelle: dpa
Am Schluss seines Besuchs sagte der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt im Flecktarn angesichts der Leoparden, die nun an die von Russland angegriffene Ukraine gehen sollen: „Ich täte auch lieber was anderes, als Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.“ Er ist sich der Ambivalenzen demnach wohl bewusst.
Einerseits rückt das Militärische nämlich auch in Deutschland immer stärker an das Politische heran. Die Pistorius-Visite in der „Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne“ war ein weiterer Beleg dafür. Es begann mit dem heutigen Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), einem Kriegsdienstverweigerer. Er reiste im Mai 2021 als Vorsitzender der Grünen in die Ost-Ukraine, zeigte sich dort mit Stahlhelm und sagte, man könne der Ukraine Defensivwaffen seiner Ansicht nicht verwehren. Es folgte Kritik von allen Seiten.
Als aus dem Frozen Conflict ein heißer Krieg geworden war, zogen andere nach. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) tauchte in der Ost-Ukraine mit kugelsicherer Weste auf. Später setzte sich Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in einen Schützenpanzer vom Typ Puma, Kanzler Olaf Scholz (SPD) kletterte in einen Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard, Pistorius schließlich in einen Leopard 2A6. Zuletzt reiste Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zu den deutschen Soldaten nach Mali. Zufall war auch das nicht. Lindner ist Major der Reserve – und stolz darauf.
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) kletterte Ende August in einen Gepard-Panzer.
© Quelle: Marcus Brandt/dpa
Unterdessen hat sich der grüne Ex-Fraktionschef Anton Hofreiter schon vor Monaten zum Panzerexperten entwickelt – und plädiert wie der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, der zum liberalen Flügel der eigenen Partei zählt, vehement für die Lieferung zunehmend schwerer Waffen. Je schneller, desto besser.
Auf einmal steht auch die Rüstungsindustrie in einem anderen, sprich positiveren Licht da. Und der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, André Wüstner, mahnt „eine Art Kriegswirtschaft“ an, ohne dass ein öffentlicher Aufschrei die Folge wäre. Die Zeiten sind halt so.
Andererseits gibt es sehr wohl Skrupel. Keiner der Beteiligten will sich jedenfalls in die Ecke vermeintlicher oder tatsächlicher Bellizisten stellen lassen.
Keine leichten Zusagen
So sagte Habeck, er zweifle „keinen Augenblick daran“, dass die Waffenlieferungen richtig seien, fügte aber hinzu: „Und trotzdem kann man das nicht leichtfertig beklatschen, wenn man sich klarmacht, dass von den 300.000 russischen Rekruten ein großer Teil verletzt oder sterben wird – auch durch Waffen, die wir geschickt haben. Die Freigabe trägt meine Unterschrift.“
Sein Parteifreund Hofreiter betont, natürlich fordere er die Waffen „nicht leichtfertig“, da damit „absolut Schreckliches“ verbunden sei. „Man liefert der ukrainischen Armee Waffen, und damit tötet sie russische Soldaten.“ Aber auf die an sich selbst gestellte Frage „Gibt es keinen anderen Weg?“, müsse er sich stets aufs Neue dieselbe Antwort geben: dass die Alternative noch schrecklicher sei. „Sie würde der russischen Armee erlauben, zu foltern, zu morden und zu vergewaltigen“, sagt der Grüne. Allein das monatelange Zögern mit Waffenlieferungen habe ja Konsequenzen: dass Wladimir Putins Truppen in der Zeit leichteres Spiel hätten.
Bundesregierung genehmigt Ausfuhr von älteren Leopard-1-Panzern
Die Bundesregierung hat nun der Industrie die Ausfuhr älterer Leopard-Exemplare genehmigt, die von der Bundeswehr vor 20 Jahren ausgemustert wurden.
© Quelle: dpa
Röttgen weist schon die Begriffe zurück, mit denen er und seinesgleichen jetzt bisweilen etikettiert werden. „Es gibt im ganzen demokratischen Europa weder Bellizismus noch Bellizisten“, sagt der Christdemokrat. „Der einzige Bellizismus, den ich kenne, ist der Krieg von Putins Russland gegen die Ukraine.“ Zwar existiere seit einigen Wochen der Versuch, Kritiker der Politik des Kanzlers gegenüber der Ukraine mit derlei Vokabeln zu diffamieren, fährt er fort. Gemeint ist wohl nicht zuletzt der Chef des Kanzleramtes, Wolfgang Schmidt (SPD), der Befürworter von Kampfpanzerlieferungen mit der Bezeichnung „Diese Bellizisten!“ belegt haben soll.
Doch Röttgen findet, das sei „ein gänzlich untauglicher Versuch. Nicht nur, weil dann die Bellizisten in der Regierung säßen und gleich zwei Regierungsparteien entstammten. Auch der Bundeskanzler wäre dann einer, weil er am Ende immer das tut, was die angeblichen Bellizisten von ihm verlangt haben. Und weil der Bundeskanzler kein Bellizist ist, können es seine Kritiker auch nicht sein.“
Mit anderen Worten: Die Befürworter einer kriegerischen Gegenwehr wollen nicht als Kriegstreiber gelten, im Gegenteil. Die Frage, ob ein von Putin provozierter jahrelanger Krieg am Ende nicht auch seine westlichen Gegner zu zivilisatorischen Rückschritten zwingt, bleibt gleichwohl offen. Anton Hofreiter sagt: „Ich hoffe nicht.“
Bittere Wahrheit
Wenn man damals dem Rechtsextremismus genauso viel Aufmerksamkeit gewidmet hätte wie etwa dem islamistischen Terror. Aber der Staat war auf dem rechten Auge blind.
Christoph Lübcke,
Sohn des von Rechtsextremisten erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke
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Der Sohn von Walter Lübcke, Christoph Lübcke, wartet auf den Beginn einer weiteren Sitzung des Prozesses gegen Stephan Ernst vor dem Oberlandesgericht.
© Quelle: Thomas Lohnes/Getty Images Europ
Über dreieinhalb Jahre ist es jetzt her, dass der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses von dem Rechtsextremisten Stephan Ernst erschossen wurde. Große Teile der Republik haben jene Nacht vom 2. auf den 3. Juni 2019 längst vergessen. Andere Ereignisse haben sich darübergelegt, die Corona-Krise etwa oder Russlands Angriff auf die Ukraine. Doch für Angehörige bleiben solche Ereignisse lebensprägend.
Das beweist nicht nur, was Christoph Lübcke, Walter Lübckes Sohn, jetzt im Interview mit „t-online“ sagte. Das zeigen auch andere Hinterbliebene. Astrid Passin, die bei dem islamistischen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 ebenfalls ihren Vater verlor, ist Sprecherin der Opfer und ihrer Angehörigen geworden. Sie fragt nach der Verantwortung des Staates und fordert dessen Hilfe.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zum Antrittsbesuch von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Berlin schreibt die italienische Zeitung „La Repubblica“ aus Rom:
„Nach dem Treffen mit Giorgia Meloni gab es einen Satz von Bundeskanzler Scholz, der den Ausgang eines Gesprächs gut beschreibt, was kompliziert zu werden versprach und sich für unser Land auch als unproduktiv entpuppte: ‚Übereinstimmungen sehe ich in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik‘. Und beim Rest? Sehr wenig. Ein paar Trostpflaster, mehr aber nicht. Italien präsentiert sich beim EU-Gipfel kommende Woche mit ungeladenen Waffen. Der Köcher populistischer Propaganda ist immer dann voller Pfeile, wenn sie in italienischen Politikdebatten verschossen werden können. Außerhalb der Ländergrenzen und vor allem gegenüber Deutschland erweist er sich plötzlich als leer. Ein durchlöcherter Behälter.
Nach dem gestrigen Treffen hat Giorgia Meloni vielleicht verstanden, dass man ohne Deutschland nichts Besonderes erwirkt. Hoffen wir, dass es nicht zu spät ist. Zwischen 1996 und 1998, als sich Italien aufmachte, um in den Euro einzutreten, mussten sich der damalige Ministerpräsident Prodi und Finanzminister Ciampi höchstpersönlich mit dem Bundeskanzler von damals, Kohl, um das Defizit und die Verschuldung kümmern. Hat Meloni die Glaubwürdigkeit, die gleichen Verpflichtungen einzugehen? So wie die gestrige Unterredung verlief, scheinbar nicht.“
Über die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann schreibt der Schweizer „Tages-Anzeiger“:
„Die 64-jährige Verteidigungspolitikerin ist seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht nur zur vielleicht mächtigsten Gegenspielerin des zögerlichen Kanzlers geworden, sondern neben Finanzminister und Parteichef Christian Lindner zur bekanntesten Figur der deutschen Liberalen überhaupt. Dass ihr dies als Parlamentarierin gelang und nicht den FDP-Ministern in Scholz‘ Regierung, spricht für sie – und gegen Volker Wissing, Marco Buschmann oder Bettina Stark-Watzinger. Strack-Zimmermann ist als Politikerin eine Wucht: schlagfertig und streitbar, sachlich und kompetent, aber auch emotional und moralistisch, wenn es um das Überleben der Ukraine geht. Die leidenschaftliche Motorradfahrerin liebt es rasant und provoziert nicht ungern, böser Sarkasmus gelingt ihr so gut wie feine Selbstironie.“
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