Militärexperte über Erfolge der Ukraine: „Die Großoffensive ist da“
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Charkiw: Ein Mehrfachraketenwerfer wird an der Grenze der ostukrainischen Regionen eingesetzt, wie das ukrainische Militär der Presse mitteilte.
© Quelle: --/kyodo/dpa
Mit einem Blitzangriff in der Region Charkiw hat die Ukraine Russland kalt erwischt. Am Wochenende haben ukrainische Soldatinnen und Soldaten zahlreiche Städte zurückerobert, darunter Kupjansk, Isjum und Lyman. Sogar den internationalen Flughafen in Donezk sollen sie unter ihre Kontrolle gebracht haben und bis ins Zentrum von Lyssytschansk vorgedrungen sein. Waffen und Munition haben die russischen Streitkräfte auf ihrer überhasteten Flucht vielerorts zurückgelassen, wie Videos zeigen sollen. Unabhängig bestätigen lässt sich dies nicht.
Doch nicht einmal die russische Propaganda versucht die Niederlagen wegzureden. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, kündigte eine Teilabzug seiner Truppen an. Russland werde seine Soldaten aus dem Gebiet Charkiw und der Stadt Isjum abziehen. Wie Karten des Ministeriums zeigen sollen, zogen sich die Truppen hinter die Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez zurück. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU veröffentlichte zudem ein Foto, das ukrainische Soldaten in Kupjansk zeigt.
Die Stadt ist ein bedeutsamer Eisenbahnknotenpunkt und ein wichtiges russisches Logistikzentrum. Es gibt zwei wichtige Strecken, die von Russland in den Süden führen und russische Truppen in der Region Luhansk versorgen. Innerhalb weniger Tage hat die Ukraine nun ein Gebiet zurückerobert, für das die russischen Truppen zwei Monate brauchten.
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Dabei erweckte die Ukraine vor Kurzem noch den Anschein, in der Südregion Cherson groß angelegte Gegenangriffe zu planen. Dass die Ukraine jetzt vor allem im Osten zurückschlägt, hat die russische Armee völlig überrumpelt. „Die Russen waren sehr überrascht von der Offensive in Charkiw und hatten keine operative Reserve an Landstreitkräften, um die eroberten Gebiete zu verteidigen“, sagt der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Die große Ablenkung durch eine angebliche Offensive im südlichen Cherson ist der Ukraine geglückt.“
Russland hat laut dem Experten viele Kräfte über den Dnipro in den Süden verschifft, die dort wegen zerstörter Brücken und Fähren jetzt nicht so leicht wieder zurückkommen können. Fallschirmjäger und andere wichtige Einheiten Russlands befänden sich dort und seien abgeschnitten. „Die große Gefahr für die Russen ist, dass ihnen schon bald die Munition ausgeht.“ Dann könnten laut Gressel 25.000 russische Soldaten in Kriegsgefangenschaft kommen. „Das wäre eine enorme Schwächung für die russische Armee in der Ukraine und ein schwerer Schlag, von dem sich Russland nicht so schnell erholen wird.“
Der russischen Armee droht ein sehr, sehr ungemütlicher Winter.
Gustav Gressel,
Militärexperte vom European Council on Foreign Relations (ECFR)
Die ukrainischen Streitkräfte operieren im Raum Cherson aber weiterhin in mehrere Richtungen, heißt es im Lagebericht des Militär-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW). Brücken, Munitionsdepots und mehrere Kommando- und Kontrollposten sollen zerstört worden sein. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht, da die Ukraine an ihrer Informationssperre zu Angriffen im Süden festhält.
Ukrainische Armee durchbricht russische Frontlinie
Die ukrainische Armee hat offenbar zahlreiche Siedlungen in Charkiw zurückerobert.
© Quelle: Reuters
Währenddessen reißen die ukrainischen Streitkräfte in der Region Charkiw die russischen Verteidigungslinien mit einem Tempo ein, das viele Expertinnen und Experten überrascht. Dort verfügen die Russen offenbar zurzeit nicht über die Kampfkraft, den Vormarsch der Ukraine aufzuhalten. Es fehlt an Landstreitkräften, die Russlands eroberte Gebiete verteidigen. Selbst im Hinterland von Charkiw geraten russische Besatzer laut ISW in Panik und haben mit Evakuierungen begonnen, Bodenkonvois und Transporthubschrauber sollen im Einsatz sein. Der Zusammenbruch der russischen Front hat demnach begonnen. John Spencer vom Modern War Institute an der US-Militärakademie West Point spricht von der „großartigsten Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg“.
Die Ukraine setzt die Kronjuwelen der ukrainischen Armee in Charkiw ein.
Gustav Gressel,
Militärexperte vom European Council on Foreign Relations (ECFR)
Hektisch hat die russische Armee nun damit begonnen, Truppen aus dem Süden in Richtung Charkiw zu verlegen. Man gruppiere die Streitkräfte neu, hieß es aus dem Kreml. Von „schwierigen Kämpfen“ sprach der putintreue Separatistenanführer der Donbass-Region Donezk. „Es wird für Russland schwierig (nicht unmöglich) sein, auf das derzeitige ukrainische Operationstempo zu reagieren“, so die Einschätzung des australischen Militärexperten Mick Ryan vom Center for Strategic and International Studies (CSIS). Er sieht in der Umverteilung der russischen Soldaten zudem weitere Chancen für die Ukraine, die Russen mit gezielten Schlägen hart zu treffen.
Bis die russischen Truppen im Osten angekommen sind, dürfte es noch Tage dauern. Bis dahin versuche Russland aus der Luft die ukrainischen Panzer zu stoppen, so ECFR-Experte Gressel. Wie stark die russischen Luftangriffe die Offensive der Ukraine verlangsamen, lasse sich nicht abschätzen. Die „Gepards“ haben Russland offenbar vor dem Einsatz seiner Luftwaffe zurückschrecken lassen. „Im Raum Charkiw setzt die Ukraine aber auf den Gepardpanzer aus Deutschland, um seine Panzerspitzen vor Angriffen aus der Luft zu schützen.“ Die 20 deutschen Gepardpanzer in der Ukraine „machen einen Unterschied“, sagte auch Außenministerin Annalena Baerbock am Samstag bei ihrem Besuch in Kiew.
In der Spitze um 50 bis 70 Kilometer haben die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen die Frontlinie in der umkämpften Region Charkiw verschoben. Dort haben sie einen Kessel gebildet, in dem sich laut Gressel noch etwa 10.000 russische Soldaten befinden. Für sie gibt es kaum eine Möglichkeit zur Flucht. Denn nach Kupjansk kommt ein großer Stausee und der Fluss Oskol, dessen Brücken die Ukrainer längst zerstört haben. „Die Russen stehen mit dem Rücken zum Fluss und können kaum entkommen“, so Gressel. Ein großer Teil von ihnen könnte in den nächsten Tagen in Kriegsgefangenschaft kommen. Die nächsten Ziele der ukrainischen Armee dürften Lyssytschansk und Sjewjerodonezk sein.
Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin wäre es eigentlich an der Zeit, den Verteidigungsminister und den Generalstabschef zu feuern, so die Einschätzung von Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. „Das wäre aber auch ein Eingeständnis, dass mit der ‚Spezialoperation‘, anders als behauptet, nicht alles nach Plan verläuft.“ Mangott führt als einen der Gründe für die militärischen Niederlagen im Osten auch Ausbleiben der Generalmobilmachung in Russland an. „Aber Putin fürchtet, die Unterstützung für die Invasion könnte drastisch einbrechen, wenn Väter, Söhne und Enkel in den Krieg eintreten müssen.“
ECFR-Experte Gressel ist sich inzwischen sicher: „Die Großoffensive der Ukraine ist da.“ Bei den Angriffen in Charkiw handele es sich um die von Selenskyj vielfach angekündigte Großoffensive, um die Kriegswende noch vor dem Winter zu erreichen. Dem Experten zufolge seien weitaus mehr Kräfte an der großen Offensive beteiligt, als offiziell genannt wurden. „Die Ukraine setzt die Kronjuwelen der ukrainischen Armee in Charkiw ein, vor allem die Luftsturm- und Luftlandebrigaden.“ Sie seien eindeutig das Schwergewicht der ukrainischen Armee.
Laut dem ISW-Lagebericht hat die Ukraine innerhalb von fünf Tagen mehr als 3000 Quadratkilometer Territorium zurückerobert. Auch der Oberbefehlshaber der Ukraine, Valery Zaluzhny, nannte diese Zahl. Das ist mehr, als die russischen Streitkräfte seit April erobert haben, so das ISW.
Doch wie groß die Geländegewinne auch tatsächlich sind, ist ohnehin zweitrangig. Entscheidend ist vielmehr, dass die Ukraine strategisch wichtige Ziele angreift und einnimmt. Dazu zählt auch der Eisenbahnknotenpunkt Kupjansk. „Durch die Eroberung von Kupjansk behindert die Ukraine jetzt Russland massiv dabei, Truppen zu bewegen und Munition an die Front zu bringen“, erklärt Experte Gressel. „Der russischen Armee droht ein sehr, sehr ungemütlicher Winter.“
Deutsche Außenpolitiker forderten von der Bundesregierung am Wochenende, die Großoffensive der Ukrainer mit mehr Waffen zu unterstützen. „Wir im Westen müssen ihr jetzt weiter dabei helfen mit allem, was sie für die Befreiung braucht“, so Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen kritisierte:, dass die Regierung längst mehr schwere Waffen hätte liefern müssen. „Diese erfolgreiche Gegenoffensive nicht mit allem, was lieferbar ist, zu unterstützen, ist eine unglaubliche und sture Verweigerungspolitik“. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, sprach sich für die Lieferung des Schützenpanzers Marder und des Kampfpanzers Leopard 2 an die Ukraine aus. Auch die USA diskutieren derzeit, westliche Kampf- und Schützenpanzer an die Ukraine zu liefern.
Dieser Artikel erschien zuerst am 10. September 2022 und wurde zuletzt am 11. September 2022 aktualisiert.
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