Die Grünen: Eine Partei wie andere auch
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Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen, r), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), und Patrick Graichen, Staatssekretär im BMWK.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
Politaffären müssen einfach sein, damit sie zünden. Und die Trauzeugenaffäre ist genial einfach. Sie besteht im Kern darin, dass Patrick Graichen, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, führendes Mitglied einer Findungskommission war, die Michael Schäfer zum Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (Dena) erkor; nur war dieser Schäfer dummerweise Graichens Trauzeuge. Eine Affäre jedenfalls, die man statt mit 32 Buchstaben auch überschreiben kann mit „Habeck-Kumpel macht seinen Trauzeugen zum Chef“, ist selbst für die „Bild“-Zeitung schon fast zu einfach.
Spannender ist ohnehin die Antwort auf die Frage, warum die Beteiligten nicht kommen sahen, was jetzt sowohl Graichen und Schäfer als auch Wirtschaftsminister Robert Habeck beschädigt. Ein Teil der Antwort lautet: Weil die Grünen über 40 Jahre nach ihrer Gründung längst eine Partei geworden sind wie jede andere – wenngleich ihre Kunst etwa auf Parteitagen nach wie vor darin besteht, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken.
Gewiss, eine normale Partei waren die Grünen schon 1998, als sie mit der SPD erstmals eine Koalition auf der Bundesebene bildeten und der einstige Straßenkämpfer Joschka Fischer in den Dreiteiler schlüpfte. Kundige Thebaner und Thebanerinnen erinnern sich auch noch, wie der vormalige Parlamentarische Staatssekretär im Verbraucherschutzministerium, Matthias Berninger, 2007 zum Nahrungsmittelkonzern Mars wechselte – getreu dem Werbeslogan: „Mars macht mobil bei Arbeit, Sport und Spiel“.
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Andere Zeiten: Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit 1987 bei der Landesdelegiertenversammlung der hessischen Grünen.
© Quelle: Frank Kleefeldt/dpa
Die Anpassung schreitet freilich voran. So ging der Büroleiter der späteren Außenministerin Annalena Baerbock, Titus Rebhann, als Cheflobbyist zum Energiekonzern RWE – und zwar bereits während der Koalitionsverhandlungen. Ende April stellte sich in Berlin-Wilhelmsruh „Die Wirtschaftsvereinigung der Grünen e.V.“ vor. Das Who‘s who der Partei war nahezu vollständig erschienen. Der Vorsitzende Omid Nouripour trug eine mit dem Anzug farblich abgestimmte Krawatte – während sich die anwesenden Unternehmer und Unternehmerinnen für offene Hemdkragen entschieden hatten. Habeck sagte, dass sich neben der Wirtschaft nicht zuletzt die eigene Partei verändern müsse. Die Begründung hätte von Henry Ford stammen können: „Stillstand ist Untergang.“
Auch sonst hat sich das Innenleben der Grünen verändert. Auf Parteitagen treten immer dieselben Abtrünnigen in Erscheinung – und zwar solche, die außerhalb der jeweiligen Halle niemand kennt: Klemens Griesehop, Karl-Wilhelm Koch und Philipp Schmagold. Wenn man eine Geschichte über grün-internen Widerstand schreiben möchte, dann wird man selbst nach intensiven Recherchen erst auf Kreisverbandsebene fündig. Prominente Abweichler und Abweichlerinnen gibt es in der Bundestagsfraktion seit Jahren nicht mehr – anders als zu rot-grünen Zeiten. Drei, die damals als Dissidenten und Dissidentin bekannt waren, sind gestorben: Werner Schulz, Hans-Christian Ströbele und Antje Vollmer. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist ausgetreten.
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Die Abgeordnete Miriam Block ist wegen mangelnder Parteidisziplin von ihren Fraktionsämtern entbunden worden.
© Quelle: Marcus Brandt/dpa
Last but not least ist da die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Miriam Block, die im Gegensatz zu ihren Fraktionskollegen für einen NSU-Untersuchungsausschuss gestimmt hatte. Sie verlor ihre Ämter. Ein Aufschrei blieb aus, obwohl sich die Grünen in den 1980er-Jahren auf ihre „basisdemokratische“ Gesinnung viel zugutehielten. Erfolg nämlich, so die interne Logik von heute, hat nur, wer geschlossen auftritt. Dafür, dass das Streben nach Erfolg irgendwann das Streben nach Veränderung untergräbt, gibt es bei den Grünen kein Bewusstsein.
Wie die Trauzeugenaffäre um Patrick Graichen ausgeht, das weiß bisher niemand. Allerdings wird die parteipolitische Konkurrenz wenig unversucht lassen, um sie weiter am Köcheln zu halten. Kommt noch was nach, so grüne Kreise, sei der Staatssekretär weg.
Bittere Wahrheit
Bei uns entscheiden Parteitage und nicht Äußerungen in den Medien über eine politische Richtung, auch wenn das für die eine oder den anderen Genossen schwer zu akzeptieren scheint.
Martin Schirdewan
Vorsitzender der Linken, über Sahra Wagenknecht
Zwischen der Parteiführung der Linken und der einstigen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht ist das Tischtuch zerschnitten. Das lässt sich an der jüngsten Meinungsäußerung von Parteichef Martin Schirdewan ablesen, der mit „die eine oder den anderen Genossen“ niemand Geringeren als Wagenknecht im Auge hatte. Die hatte zuvor erklärt, sie würde alle Bestrebungen über die Gründung einer neuen Partei einstellen, wenn die Linke sich „völlig neu aufstellen würde, mit attraktiven Köpfen an der Parteispitze und einem vernünftigen Kurs“.
Wagenknecht wollte eigentlich sagen: Wenn alle auf mein Kommando hören, dann bleibe ich. Doch der Genosse Schirdewan, der kein Befehlsempfänger sein möchte, hat sie auch so verstanden.
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Martin Schirdewan, Bundesvorsitzender der Linken, möchte kein Befehlsempfänger von Sahra Wagenknecht sein.
© Quelle: Bodo Schackow/dpa
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommentiert die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts, wonach Altkanzler Gerhard Schröder keinen Anspruch auf ein Büro im Bundestag hat:
„Die Entscheidung des Gerichts, die Schröder rechtlich noch anfechten kann, ist richtig. Aber sie ist nicht nur in diesem Fall richtig. Die üppige und unbefristete Alimentierung ehemaliger deutscher Regierungschefs gehört allgemein auf den Prüfstand.
Schon 2018 hatte der Bundesrechnungshof die staatlichen Zahlungen an frühere Kanzler unter die Lupe genommen. Und im Fall von Schröder hatte es schon damals einen Rüffel gesetzt: Beim Umgang mit Steuergeld seien ‚Grenzen überschritten‘ worden, hieß es in dem Bericht.
Deutschlands Parlamentarier sollten bei Gelegenheit einen Blick in die Schweiz werfen. Dort haben ehemalige Regierungsmitglieder nach ihrem Rücktritt kein Anrecht auf ein Dienstfahrzeug, ein Sekretariat oder gar ein Büro. Auch angesichts der erdrückenden Steuerlast in Deutschland stünde eine Abspeckkur nicht nur Gerhard Schröder, sondern allen künftigen Kanzlern und Kanzlerinnen außer Diensten gut zu Gesicht.“
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Gerhard Schröder hat hinter den Kulissen nicht nur seiner Partei Schaden zugefügt und möchte weiterhin Büros und Mitarbeitende im Bundestag behalten.
© Quelle: picture alliance / AP Photo
Zum Austritt des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen heißt es im Schweizer „Tages-Anzeiger“:
„Palmer hat sich in seinen bislang 16 Jahren in Tübingen beliebt gemacht: Die Menschen schätzen ihn als unorthodoxen bürgerlichen Problemlöser. Seinem Universitätsstädtchen geht es gut, in der Pandemie fiel der Ökolibertäre genauso durch neue Ideen auf wie zuvor in der Wohnungspolitik, bei der Verkehrs- oder Energiewende. Es gab Zeiten, da galt er nicht nur als großes politisches Talent, sondern auch als möglicher Nachfolger eines anderen wertkonservativen Grünen: des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.
Doch Palmer gierte nach mehr, nach Ruhm als Vor- und Querdenker im ganzen Land. Sein rebellisches Temperament vermochte er nie zu kontrollieren, seine Streitsucht war so immens wie seine Lust, zu gefallen. So verkam der Egozentriker zum Wutbürgermeister, der seinen Alltagsrassismus als Kampf gegen angebliche Redeverbote verbrämte, und zum Sturkopf, der seine Verbohrtheit bis zur totalen medialen Selbstauslöschung trieb. Dass Palmer nun in Therapie geht und die Grünen in Ruhe lässt, wirkt wie eine Erlösung. Seine Geschichte ist nämlich nicht nur die einer Entfremdung, sondern auch ein Drama: das eines begabten Mannes, der nie ein Maß fand.“
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© Quelle: Andy Spyra/RND
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