Die UN: geschwächt, aber ein „Akt der unerschrockenen Hoffnung“ gegen Putin
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält ein Exemplar der Charta der Vereinten Nationen hoch bei seiner Rede zu den Delegierten in der Generaldebatte bei der 77. Generalversammlung der UN.
© Quelle: Jason Decrow/AP/dpa
New York. Die Generaldebatte der Vereinten Nationen plätschert schon seit Stunden so dahin, die Reden reißen niemanden wirklich vom Hocker. Die Zuhörerschaft im Sitzungsaal ist spärlich, der Beifall ist es auch. So dramatisch die Weltklage mit ihren multiplen Krisen auch ist, eine Diskussion kommt in New York gar nicht zustande, es ist wie so oft eher eine Aneinanderreihung wohl ausformulierter Statements der Staats- und Regierungschefs.
Die große Unruhe in vielen Delegationen der 193 Mitgliedsstaaten hat einen ganz anderen Grund. Er liegt im fernen Moskau. Kremlchef Wladimir Putin werde auch eine Rede halten, heißt es, eine Fernsehansprache. Quasi als Gegenrede zu der Generaldebatte der UN. Wann immer er sie hält, der nächste Redner, die nächste Rednerin im Sitzungssaal der UN müsste direkt darauf reagieren. Es wird recherchiert, gemailt, gesimst, telefoniert.
Klar ist bis dahin schon, dass von Moskau gestützte Separatistengebiete wie Donezk und Luhansk in der Ukraine in Kürze Volksabstimmungen zu einem Anschluss an Russland planen – ohne jedwede Kontrolle. So hat Kremlchef Wladimir Putin auch die Krim annektiert.
Kanzler Scholz wirft Putin „blanken Imperialismus“ in der Ukraine vor
In seiner ersten Rede vor der UN-Vollversammlung hat Bundeskanzler Olaf Scholz Russlands Präsidenten Wladimir Putin schwere Vorwürfe gemacht.
© Quelle: Reuters
Olaf Scholz tritt am späten Dienstagabend – in Deutschland weit nach Mitternacht – ans Pult. Er ist der dreiunddreißigste Redner. Von Putin war bis dahin noch nichts zu hören. Der Bundeskanzler fokussiert sich aber ohne neuerlichen Anlass auf den Kriegstreiber und geht gleich auf die geplanten Abstimmungen in der Ukraine ein. „Scheinreferenden“ nennt er sie. Sie würden niemals akzeptiert.
Scholz formuliert so scharf, als müsse er die Vereinten Nationen wachrütteln. Dabei dürften doch alle im Bilde sein. Er beschreibt Russland als Gefahr für die globale Friedensordnung, weil hier „eine hochgerüstete, nukleare Großmacht – noch dazu ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates“ Grenzen mit Gewalt verschieben wolle. „Blanken Imperialismus“ wirft er Putin vor, für den Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit nicht zählten. Ein Desaster nicht nur für Europa, sondern auch für die Vereinten Nationen sei das.
Ein paar Stunden später ist die erneute Eskalation des Krieges da. Putin hat gesprochen. Er setzt eine Teilmobilisierung von 300.000 Soldaten in Gang. Scholz stellt sich auf seinem Weg zum Interview ,mit der „New York Times“ im schönen Bryant Park vor die Kameras. Ein „Akt der Verzweiflung“ sei das, was Putin jetzt tue. Er mache alles nur noch schlimmer, sagt Scholz. Das ist national und international die Tonlage. Es klingt sehr nach Hoffnung, wenn er erklärt: „Russland kann diesen verbrecherischen Krieg nicht gewinnen.“
Die große Frage, wie der sogenannte Westen, die Nato-Staaten reagieren werden, bleibt zunächst offen. Noch mehr Waffen? Moderne Kampfpanzer?
Am Nachmittag spricht US-Präsident Joe Biden vor den UN. Er wirft Putin vor, die UN-Friedenscharta schändlich zu missachten. Die russischen Gräueltaten in der Ukraine ließen einem „das Blut in den Adern gefrieren“. Russland müsse für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Putins Atomdrohungen zeigten ferner, dass sich Russland nicht um den Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen schere. Biden warnt: Es kann keinen Atomkrieg geben. Niemand wolle das.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sollte zugeschaltet werden. Er reagiert bereits vorher so: Putin wolle „die Ukraine in Blut ertränken, aber auch im Blut seiner eigenen Soldaten.“
Es ist eine Lebensweisheit für jede Premiere: Du hast niemals eine zweite Chance, einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Es ist Scholz´ erste Rede als Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen. Es ist überhaupt seit Langem wieder eine Rede der deutschen Regierungsspitze. Viele Jahre ist es her, dass Scholz’ Vorgängerin Angela Merkel hier auftrat.
Der Kanzler hat genau 15 Minuten, um einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Davon hängt ab, was auf internationaler Bühne haften bleibt: Wird Deutschland von einem Mann vertreten, der sich einreiht oder der vorangeht?
Er fängt an mit dem Versprechen, dass Deutschland in seinem Engagement für die Vereinten Nationen „niemals“ nachlassen werde. Und er reicht am Ende die Hand zur Verteidigung der „edlen Ziele“ von Frieden, Freiheit, Recht, Bildung und Gesundheit. Dazwischen liegt nichts weniger als seine Vorstellung von einer neuen Weltordnung, in der Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geächtet und Moskau isoliert wird, Chinas Menschenrechtsverletzungen thematisiert und Staaten des globalen Südens aufgewertet werden. Und Deutschland mehr Führung übernimmt.
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Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, spricht auf der 77. Sitzung der Generaldebatte der UN-Vollversammlung im Hauptquartier der Vereinten Nationen.
© Quelle: Mary Altaffer/AP/dpa
Er beklagt die Schwächen der Vereinten Nationen: „Unser Problem sind nicht fehlende Regeln. Unser Problem ist der mangelnde Wille, sie einzuhalten und durchzusetzen.“ Und er bittet um Unterstützung der Bewerbung Deutschlands, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen. Seit Jahren gilt der Sicherheitsrat wegen gegenseitiger Blockaden der USA, Chinas und Russlands in zentralen Fragen als weitgehend handlungsunfähig.
Deutschland sei zweitgrößter Geber des UN-Systems, zweitgrößter Geber auch für humanitäre Hilfe und habe Millionen Geflüchtete aufgenommen, betont der Kanzler. Er beansprucht in dieser unübersichtlichen Welt für Deutschland mehr Verantwortung, mehr Führung. Biden ist ein gewichtiger Fürsprecher einer Reform. Das mächtigste UN-Gremium müsse glaubwürdig und effektiv bleiben, mahnt er in seiner Rede. Er preist die Vereinten Nationen als „Akt der unerschrockenen Hoffnung“.
Viele Staats- und Regierungschefs halten sich nicht an ihre Redezeit und sprechen länger. Scholz ist nach 15 Minuten und 53 Sekunden fertig. Er hat trotzdem alles gesagt. Der erste Eindruck. Er dürfte haften bleiben.
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