Sonderzug nach Kiew
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Bei ihrem Besuch in Kiew schauen Lars Klingbeil und Rolf Mützenich mit Wladimir Klitschko über die Dächer der Stadt.
© Quelle: Fion Große
Liebe Leserin, lieber Leser,
Reisen von ausländischen Politikern nach Kiew werden so lange wie möglich vertraulich behandelt. Erst wenn sie in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffen sind, darf berichtet werden – aber immer erst eine Stunde nach einem abgeschlossenen Termin. Eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass russische Kämpfer die Gäste ins Visier nehmen wollen – ob aus Moskau gesteuert oder in Eigenregie.
So waren SPD-Chef Lars Klingbeil und der SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Rolf Mützenich am frühen Montagmorgen schon nicht mehr am Hauptbahnhof in Kiew, als ich ihre Ankunft vermeldete. Wir waren mit einem Sonderzug aus Polen gekommen. Zehneinhalb Stunden dauerte die Fahrt.
Personenschützer vom Bundeskriminalamt begleiteten uns. Ihre Einweisung auf dem Bahnsteig von Przemyśl – das ist der Bahnhof, in dem zu Beginn des Krieges Zehntausende ukrainische Geflüchtete strandeten – ging so: Der Zug fährt verdunkelt, die Fensterscheiben sind von innen mit Folie beklebt, damit das Glas durch Einschläge nicht in tausend Splittern ins Abteil fallen kann. Bei Luftalarm bleibt der Zug auf der Strecke stehen, fährt nicht in den nächsten Bahnhof. Bei einem Angriff wird der Zug evakuiert.
So weit, so abstrakt. Darüber, was eine Evakuierung genau bedeutet, habe ich mir vorsichtshalber keine Gedanken gemacht. Die beiden Politiker, enge Vertraute und wir vier Journalistinnen und Journalisten, haben uns noch eine Weile zusammen in dem Waggon mit dem Besprechungszimmer unterhalten – über die Erwartungen, die Hoffnungen und den Weg der SPD, die Willy Brandts Ostpolitik der Versöhnung und Entspannung mit Russland neu aufsetzen muss.
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Lars Klingbeil und Rolf Mützenich kommen mit dem Zug in Kiew an. Der deutsche Gesandte Bertram von Moltke begrüßt sie.
© Quelle: Fionn Große
Dieser Waggon. Wem kommt nicht der Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ in den Sinn, wenn dort ein großes Ledersofa steht, ein Gemälde hängt und der Boden mit Teppich ausgelegt ist? Wenn dann noch einer Ennio Morricone anstimmt, der die Musik für den legendären und nicht durchgängig ernst gemeinten Italowesternklassiker schrieb, wird sogar gelacht.
Solche Situationen sind eigenartig. Es ist beklemmend, in dieses Land zu fahren, das Wladimir Putin vernichten will. Und trotzdem entzieht man sich für einen Moment diesem monströsen Weltgeschehen. Vielleicht aus Verlegenheit, aus Unbeholfenheit oder aus Angst.
Gefährlich war die Reise in diesen Stunden aber nicht. In Kiew gab es nur einmal Luftalarm. Wir saßen da gerade im City Hotel. Die beiden Sozialdemokraten hatten dort die Klitschko-Brüder getroffen, plötzlich gingen auf Handys Sirenen an, die Warnapp ließ wissen, man solle einen sicheren Ort aufsuchen. Hinweisschilder wiesen den Weg: „Bomb shelter“. Luftschutzraum. Aber alle blieben sitzen.
Das sei der Hinweis, dass nun in Russland ein Kriegsflugzeug aufsteige oder eine Rakete abgefeuert werde, sagte einer der Gesprächspartner. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Kiew treffen werde, sei gering. Das deutsche Iris-T-Luftabwehrsystem trage erheblich zu dieser Sicherheit in der Hauptstadt bei. Die Abfangquote liege bei nahezu 100 Prozent. Man hoffe dann immer nur, dass nirgendwo sonst in der Ukraine Unheil angerichtet werde. Verstörender Alltag im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Täglich sterben dort Menschen.
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SPD-Politiker Lars Klingbeil und Rolf Mützenich mit Wladimir Klitschko in Kiew. Vor allem für Mützenich war es ein wichtiger Besuch: Er stand in der Ukraine oft in der Kritik, zu russlandfreundlich zu sein.
© Quelle: Fionn Große
Wären nicht die Regierungsgebäude mit meterhohen Sandsäcken und Checkpoints gesichert und würden davor nicht zerschossene russische Panzer als Symbol für den Freiheitskampf der Ukraine stehen, käme man nicht darauf, dass dies die Hauptstadt eines überfallenen Landes ist. Teile der Innenstadt sind wunderschön, Menschen spazieren über den zentralen Maidan-Platz, wo 2014 die damalige russlandnahe Regierung für Demokratie demonstrierende Ukrainerinnen und Ukraine erschießen ließ. Die Bevölkerung hat die Verantwortlichen davongejagt und anders gewählt. Das Streben nach Europa ist deutlich zu spüren. Gerade hier auf dem Maidan.
Im City Hotel gab es im 15. Stock ein tolles Frühstück. Hätte auch ein Hotel in Paris oder Rom sein können. Die Sonne schien und der Blick über Kiew war klar. Solche Szenen sind trotzdem bedrückend, weil man sieht, wie schön das Leben hier sein könnte. Gäbe es nicht diesen größenwahnsinnigen Putin in Moskau.
Auf der nächtlichen Rückfahrt hielt der Zug einmal auf der Strecke an. Ich lag in meinem Schlafabteil und wartete darauf, dass Luftalarm zu hören sein würde. Wie war das noch mit der Evakuierung? Was müsste ich jetzt machen? Da setzte sich der Zug auch schon wieder in Bewegung. Draußen sah ich im Dunkeln kleine Häuser. Hier und da ein Kerzenlicht. Ich würde in Kürze wieder zu Hause sein. In einem sicheren Land. Die Menschen in der Ukraine können davon nur träumen.
Wiederaufbau in der Südukraine: „Mykolajiw ist vom Krieg gezeichnet“
In der südukrainischen Stadt Mykolajiw stehen die Wiederaufbauarbeiter symbolisch für den unbeugsamen Willen der Ukrainer und Ukrainerinnen.
© Quelle: RND
Machtpoker
Wir werden im Kabinett noch einmal gemeinsam über finanzielle Realitäten sprechen müssen.
Christian Lindner (FDP),
Bundesfinanzminister zur Deutschen Presse-Agentur
Der Finanzminister legt seine Eckwerte für den Haushalt 2024 überraschend nicht wie geplant zur Kabinettssitzung an diesem Mittwoch vor. SPD, Grüne und FDP haben sich über die Etatpläne heftig in die Klamotten bekommen. Die zusätzlichen Wünsche der Ministerinnen und Minister belaufen sich auf 70 Milliarden Euro. Lindner besteht darauf, dass die Schuldenbremse eingehalten und auf Steuererhöhungen verzichtet wird. Dann können nicht 70 Milliarden Euro obendrauf kommen – jedenfalls nicht ohne Einsparungen an anderer Stelle. Denn die Schuldenbremse im Grundgesetz grenzt die Kreditaufnahme des Bundes ein und darf nur in Notlagen ausgesetzt werden.
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Eigentlich wollte die Ampel die Eckpunkte für den Haushalt 2024 bei der nächsten Kabinettssitzung verabschieden. Nun hat Christian Lindner die Vorlage gestoppt. Eskaliert damit der Koalitionsstreit?
© Quelle: IMAGO/Chris Emil Janßen
Einen neuen Zeitpunkt für seine Etatpläne gibt Lindner gar nicht erst an. Sein Hinweis auf die „finanziellen Realitäten“ heißt nichts anderes, als dass er seine Kolleginnen und Kollegen, jedenfalls die Grünen, für Traumtänzer hält, die sich mal der Wirklichkeit stellen sollten. Bundeskanzler Olaf Scholz findet das alles kein Problem. Auch er habe als Finanzminister die Vorstellung der Eckwerte immer wieder mal verschoben. Am Ende habe immer ein Haushalt der Bundesregierung vorgelegen. Stimmt. Aber jetzt ist er ja nicht mehr Finanzminister und die FDP verliert an Rückhalt in der Bevölkerung. Lindner will sich profilieren. Dazu passt nicht, eigene Ziele zu verfehlen. Das Gerangel geht weiter.
Wie unsere Leserinnen und Leser auf die Lage schauen
An dieser Stelle geben wir Ihnen das Wort:
Volker Reich aus Leipzig zur neuen Ostpolitik von SPD-Chef Lars Klingbeil:
„Die damalige Politik Willy Brandts eher isoliert als „Wandel durch Annäherung“ oder „Wandel durch Handel“ zu beschreiben, kann leicht zu Missverständnissen führen, denen nicht nur große Teile der SPD – wenigstens bis 24. Februar 2022 – unterlagen und möglicherweise auch noch heute unterliegen. Die Ostpolitik der 1970er Jahre wurde ursprünglich von Egon Bahr schon 1963 konzipiert: Die Mauer ist „ein Zeichen der Schwäche ...“. Man kann auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die DDR-Führung sah damals sofort das Risiko dieser neuen Ost- und Deutschlandpolitik. Der DDR-Außenminister Otto Winzer bezeichnete den „Wandel durch Annäherung“ als „Konterrevolution auf Filzpantoffeln“ und die SED reagierte mit einer strikten Abgrenzungsideologie und der These von der Herausbildung einer eigenständigen Nation.
Angesichts des Überfalls auf die Ukraine wird heute darüber diskutiert, ob diese Politik gescheitert sei. Diese Frage können allerdings nur diejenigen bejahen, die übersehen, dass Entspannungspolitik immer auf den beiden Pfeilern Sicherheit und (!) Entspannung fußen muss, was sich schon mit dem Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 zeigte. Der Historiker August Winkler beschreibt die Voraussetzungen der damaligen und überhaupt einer Entspannungspolitik präzise: Die ursprüngliche Ostpolitik, wie sie Willy Brandt und Egon Bahr 1963 in Berlin entwickelt hatten, beruhte auf eindeutigen Voraussetzungen: Zum einen, dass Ostpolitik nur als Bestandteil der westlichen Entspannungspolitik betrieben werden konnte, zum anderen, dass Entspannungspolitik ein hinreichendes Maß an militärischer Stärke bis hin zur nuklearen Abschreckung erfordert.“
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1970 ging Willy Brandt mit seinem Kniefall von Warschau in die Geschichte ein. Wenige Meter entfernt stellte Lars Klingbeil die neue Ostpolitik der SPD vor.
© Quelle: Fionn Große
Franz Bücker aus Hannover zur Kiew-Reise der SPD-Spitzen Lars Klingbeil und Rolf Mützenich:
„Die Reise nach Kiew muss für den Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Rolf Mützenich, wie eine Reise nach Canossa gewesen sein. Sein Reisebegleiter Lars Klingbeil hatte sich schon früher von der Russland-Politik von Gerhard Schröder distanziert. Für die Realos in der SPD, insbesondere für Bundeskanzler Scholz, ist das ein voller Erfolg. Der links-pazifistische Flügel der SPD hat viele Federn lassen müssen. Endlich hat der Realo-Flügel in der SPD deutlich an Einfluss gewonnen.“
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Jan Emendörfer ist unser Osteuropa-Experte. Georgien gehört auch zu seinem Gebiet. Nach Protesten gegen ein geplantes Gesetz, wonach sich Nichtregierungsorganisationen und Medien als „Agenten“ registrieren lassen müssen, die Geld aus dem Ausland erhalten, ist der Verzicht auf den Entwurf angekündigt worden. Was das für das Verhältnis mit Russland bedeutet, lesen Sie hier.
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© Quelle: Shakh Aivazov/AP/dpa
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Ihre Kristina Dunz
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