Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine zerstört – Selenskyj ruft Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats ein
Die russischen Streitkräfte haben offenbar den Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gesprengt.
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Die russischen Streitkräfte haben offenbar den Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gesprengt. Das berichtete das Kommando Süd der ukrainischen Truppen am Dienstag.
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Russland bestätigt die Beschädigung und macht im Gegenzug die Ukraine verantwortlich. Zudem melden beide Kriegsparteien die Zerstörung des angrenzenden Wasserkraftwerks von Nowa Kachowka. Es sei „offensichtlich“, dass eine Reparatur nicht möglich sei, sagte der russische Besatzungsbürgermeister Wladimir Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber sprach von einer kompletten Zerstörung der Anlage.
Ukraine sieht klares Motiv für Staudamm-Zerstörung bei Russland
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine Notfallsitzung des nationalen Sicherheitsrates einberufen. Das teilte der Sekretär des Rats, Olexij Danilow, am Dienstagmorgen auf Twitter mit. Kiew hat nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im Süden Russland ein klares Motiv zugeschrieben. Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen, schrieb Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Dienstag im Kurznachrichtendienst Twitter. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen. Russland müsse international als Terrorstaat eingestuft werden. Moskau wiederum gab Kiew die Schuld.
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„Auf einem riesigen Territorium wird alles Leben zerstört“, schrieb Podoljak. „Viele Ortschaften werden zerstört; der Umwelt wird enormer Schaden zugefügt.“ Im Fernsehen fügte er hinzu, dass Russland mit dem Anschlag im umkämpften Gebiet Cherson die Initiative im Krieg wieder an sich reißen und die europäischen Staaten einschüchtern wolle. Das Gebiet ist zum größten Teil von russischen Truppen besetzt, sie kontrollieren auch das Kraftwerk und damit den Füllstand im Stausee. Die Gebietshauptstadt Cherson ist unter ukrainischer Kontrolle.
Umgesetzt habe die Sprengung des Wasserkraftwerks nach ersten Erkenntnissen die 205. Motorisierte Schützeneinheit der russischen Armee, sagte Podoljak. Der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte deshalb mehr Tempo bei den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Jeder müsse verstehen, dass es für Moskau keine roten Linien gebe.
In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die dem Anschein nach bereits gestiegenen Wasserstände um die Stadt Cherson zeigten. Außerdem wurden Aufnahmen geteilt, auf denen offenbar die ausströmenden massiven Wassermengen an der Staudammmauer in Kachowka zu sehen waren. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden.
Selenskyj: Russen sprengten Kachowka-Kraftwerk von innen
„Russische Terroristen. Die Zerstörung des Staudamms des Wasserkraftwerks Kachowka bestätigt der ganzen Welt nur, dass sie aus jedem Winkel des ukrainischen Landes vertrieben werden müssen“, schrieb Selenskyj am Dienstagmorgen auf Twitter. „Die Terroristen werden nicht in der Lage sein, die Ukraine mit Wasser, Raketen oder sonst etwas aufzuhalten.“ Alle Dienste würden weiterhin funktionieren.
Laut Angaben Selenskyjs haben russische Streitkräfte den Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine von innen gesprengt. „Um 02:50 Uhr in dieser Nacht führten russische Terroristen eine interne Explosion der Strukturen des Wasserkraftwerks Kachowka durch“, schrieb Selenskyj auf Telegram nach der von ihm einberufenen Dringlichkeitssitzung des Nationalen Sicherheitsrates zu den Ereignissen.
Dem Präsidenten zufolge befänden sich 80 Siedlungen in der Zone, die von Überschwemmungen bedroht sind. Die gefährdeten Gebiete sollen evakuiert werden. Ortschaften, die Trinkwasser aus dem Stausee bezogen haben, sollen anderweitig versorgt werden. „Wir tun alles, um die Menschen zu retten. Alle Dienste, das Militär, die Regierung und das Präsidentenamt sind daran beteiligt.“ Russland solle für den „Terroranschlag“ zur Rechenschaft gezogen werden, forderte Selenskyj. Man habe sich in der Sitzung des Sicherheitsrates auf internationale Maßnahmen geeinigt.
Ukraine fordert Ausschluss Russlands aus UN-Sicherheitsrat
Andrij Jermak, Chef des Präsidentenbüros in Kiew, nannte die Zerstörung des Kachowka-Staudamms einen „Ökozid“. Auf Telegram schrieb Jermak: „Die Russen werden dafür verantwortlich sein, dass die Menschen im Süden der Region Cherson und auf der Krim möglicherweise kein Trinkwasser mehr haben, dass einige Siedlungen und die Biosphäre möglicherweise zerstört werden.“ Zudem sei das Atomkraftwerk Saporischschja von der Aktion bedroht, erklärte der Präsidentenberater ohne Details zu nennen.
„Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und die Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden derzeit geklärt“, schreibt das Kommando Süd auf seiner Facebook-Seite. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen. Auf der rechten Seite des Flusses Dnipro, wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt, sei mit Evakuierungen begonnen worden. „Die russische Armee hat einen weiteren Akt des Terrors verübt“, schrieb Prokudin auf Telegram.
Die Ukraine hat die Zerstörung des Kachowka-Staudamms zudem als „größte menschengemachte Katastrophe seit Jahrzehnten“ eingestuft. Hunderttausende bekämen in den kommenden Jahren die negativen Folgen zu spüren, warnte Jermak am Dienstag in Kiew. Er bezeichnete Russland als „Terrorstaat“, der seinen Angriffskrieg auf eine neue Stufe stelle. „Heute ist Russland eine globale Bedrohung.“ Das Land müsse seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat verlieren. Russland gehört dort zu den fünf Vetomächten.
Zerstörung von Staudämmen als Kriegsverbrechen klassifiziert
Laut dem Militärexperten Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München handele es sich bei der Sprengung des Staudamms um ein „planmäßiges“ und „systematisches“ Kriegsverbrechen. Eine Ausnahme davon gelte lediglich, wenn ein solcher Damm zu einem anderen als seinem normalen Zweck genutzt werden. „Ich glaube nicht, dass Russland diese Ausnahme geltend machen kann“, schreibt Masala auf Twitter.
Russland macht ukrainische Sabotage verantwortlich für Staudamm-Zerstörung
Entgegen anderslautender Berichte aus Kiew und dem Westen hat der Kreml die Ukraine der Zerstörung des wichtigen Staudamms im russisch besetzten Nowa Kachowka beschuldigt. „Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (...) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Beweise für die Anschuldigungen legte er nicht vor. Präsident Wladimir Putin werde über alle Entwicklungen informiert, sagte Peskow.
Durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms wollen sich die ukrainischen Streitkräfte nach eigenen Angaben nicht von der Rückeroberung russisch besetzter Gebiete abhalten lassen. Die Ukraine verfüge über „alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden“, hieß es in einer Mitteilung der Abteilung für strategische Kommunikation vom Dienstag. Die russischen Besatzer hätten den Staudamm im Süden der Ukraine „aus Angst vor der ukrainischen Armee“ gesprengt, schrieb das Militär auf Telegram.
Das Wasser in Cherson steigt: Ukraine will Bevölkerung evakuieren – Russland sieht noch keine Notwendigkeit
Das ukrainische Innenministerium rief die Bevölkerung von zehn Dörfern am rechten Flussufer des Dnipro und in Teilen der Stadt Cherson auf, wichtige Dokumente und Haustiere einzusammeln, Geräte auszuschalten und die Gegend wegen Überschwemmungsgefahr zu verlassen. Zudem warnte es vor möglicher Desinformation.
Die russische Nachrichtenagentur berichtet unter Bezug auf den von Moskau eingesetzten Bürgermeister in Nowa Kachowka, dass der obere Teil des Staudamms durch Beschuss zerstört worden sein soll. „Das Wasser ist gestiegen“, sagte Wladimir Leontjew. Bislang gebe es aber keine Notwendigkeit, Zivilisten in Sicherheit zu bringen. Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.
Welche Auswirkungen könnten die Zerstörungen am Kachowka-Staudamm haben?
In dem Wasserreservoir befinden sich rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Das Austreten dieser Menge könnte nicht nur für Überschwemmungen im russischen besetzten Teil Chersons sorgen, sondern auch zu einer meterhohen Flutwelle auf die gleichnamige Hafenstadt führen.
Der Ukraine-Experte Nico Lange schreibt auf Twitter, dass es nun für die ukrainischen Truppen unmöglich sei, den betroffenen Fluss Dnipro für eine Gegenoffensive in der Region zu überqueren. Zudem könnte es Probleme mit der Wasserversorgung der 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim geben.
Diese Annahmen werden von der Modellierung eines Ernstfallszenarios bestätigt, die bereits im vergangenen Oktober veröffentlicht wurde. Das Modell wurde von der schwedischen Firma Dämningsverket AB mit einer Software des US-Militärs erstellt. Demzufolge würden innerhalb weniger Stunden weite Teile der Region sowie angrenzende Flüsse überflutet.
Nach Angaben der Ukraine War Environmental Consequences Working Group, die mögliche Folgen des Krieges einschätzt, könnte eine vollständige Zerstörung der Staumauer dazu führen, dass kein Kühlwasser mehr für das Atomkraftwerk Saporischschja zur Verfügung steht.
Die Nähe des Kachowka-Stausees zum direkt angrenzen Atommeiler wird auf einer Darstellung deutlich, die der Experte für Atomenergie, Mark Nelson, auf Twitter geteilt hat. Obwohl die Reaktoren von Europas größtem Atomkraftwerk bereits vor Monaten abgeschaltet wurden, produzierten sie noch immer viel Hitze, schreibt Nelson. Dennoch bewertete er die aktuelle Situation als kein „ernsthaftes Risiko“. Dennoch handele es sich um eine sich entwickelnde Situation.
Auch die Internationale Atomeenergiebehörde IAEA sprach am Dienstag von „keinem unmittelbaren nuklearen Sicherheitsrisiko“ durch die Zerstörung am Kachowka-Staudamm. Experten der Behörde am Atomkraftwerk Saporischschja würden die Situation überwachen, schreibt die IAEA auf Twitter. Wegen des Dammbruchs fällt laut IAEA-Chef Rafael Grossi der Wasserstand in einem Reservoir für die Kühlsysteme, die ein gefährliches Überhitzen der Reaktorkerne und des Atommülls in Saporischschja verhindern. Das Wasser aus dem Reservoir reiche noch für „einige Tage“. Außerdem stehe ein Kühlbecken neben dem AKW-Gelände zur Verfügung, das weiteres Wasser für einige Monate enthalte.
„Es ist daher unerlässlich, dass dieses Kühlbecken intakt bleibt“, warnte Grossi. „Es darf nichts geschehen, was seine Unversehrtheit potenziell gefährden könnte“, appellierte er an Kiew und Moskau. Grossi kündigte an, das AKW nächste Woche erneut zu besuchen.
Kachowka-Stausee fasst 18 Mrd. Kubikmeter Wasser
Der Kachowka-Staudamm liegt im von Russland besetzten Teil der südukrainischen Region Cherson. Das 1956 errichtete Bauwerk ist rund 3,6 Kilometer lang und 30 Meter hoch. Der Kachowka-Stausee, dessen Wassermassen nun entfesselt wurden, fasst ganze 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Aufgrund seiner Ausmaße von rund 230 Kilometern Länge und 24 Kilometern an der breitesten Stelle wird er auch als „Kiewer Meer“ bezeichnet. Die Ukraine hatte seit Monaten davor gewarnt, dass Russland den Staudamm sprengen wolle, um ukrainische Vorstöße in dem Gebiet zu verhindern. Kiew warf den russischen Truppen vor, die Anlage vermint zu haben.
Russland hatte das Nachbarland Ukraine vor mehr als 15 Monaten überfallen und im Zuge seines Angriffskriegs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region – darunter auch die der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudammstadt Nowa Kachowka. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im vergangenen November die Evakuierung der Stadt ankündigten.
RND/sic/dpa/AP