Waffengewalt, Terror, wählende Kinder: Russlands Scheinreferenden auf der Zielgeraden
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Ein Soldat der russischen Besatzungsmacht steht neben einer Wahlurne in Luhansk.
© Quelle: IMAGO/SNA
Die Scheinwahlen in südlichen und östlichen Teilen der Ukraine gehen an diesem Dienstag zu Ende. Bis zum Nachmittag können Bürger in den ostukrainischen Separatistenregionen und besetzten Kriegsgebieten über ihre Zugehörigkeit zu abstimmen, das Ergebnis steht jedoch von vornherein fest. International werden die Referenden nicht anerkannt.
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Mit einer großen Propagandashow haben russische Staatsmedien in der vergangenen Woche den Beginn der Scheinreferenden in den vier zum Teil besetzten ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson gefeiert. Die Menschen sind aufgerufen, über den Beitritt ihrer Region zur Russischen Föderation abzustimmen.
Während im Luhansker Gebiet die Wahllokale an diesem Dienstag von acht bis 16 Uhr Ortszeit (sieben bis 15 Uhr MESZ) geöffnet sein sollen, kann im Donezker Gebiet bis 20 Uhr abgestimmt werden. Im südukrainischen Gebiet Saporischschja sollen knapp 400 Wahllokale nur am 27. September von acht bis 16 Uhr geöffnet sein. Es gibt gläserne Urnen und bewaffnete Soldaten, die die Stimmabgabe kontrollieren.
Im Staatsfernsehen gab es kaum ein anderes Thema, die staatlich kontrollierte russische Nachrichtenagentur Tass startete sogar einen Liveticker. Mantraartig wird wiederholt, dass alles „ganz normal“ ablaufe und „internationale Beobachter“ da seien, unter anderem aus Russland, Togo, Südafrika – und Deutschland.
So liefen die Wahlen ab ab
In den vergangenen vier Tagen durften die Menschen „aus Sicherheitsgründen“ nur in den eigenen Häusern an dem Scheinreferendum teilnehmen, heißt es in russischen Staatsmedien. Prorussische Unterstützer zogen von Haus zu Haus und haben die Menschen einen Wahlzettel ausfüllen lassen. Am fünften Tag, dem heutigen 27. September, sollen die Bewohner in „Wahllokale“ gehen dürfen.
„Referendum unter den Mündungen von Maschinengewehren“
Wie diese Tür-zu-Tür-Abstimmungen in Donezk aussehen, zeigt ein von dem russischen Staatsmedium Tass veröffentlichtes Video: In Begleitung bewaffneter russischer Soldaten erhalten die Bewohner einen Stimmzettel ausgehändigt. Ähnliche Bilder gibt es auch aus Melitopol in Saporischschja, die ukrainische Medien verbreiten. Unabhängig überprüfen lassen sie sich nicht. Zuvor hatte allerdings bereits der ukrainische Inlandsgeheimdienst (SBU) gewarnt, dass die russische Besatzungsmacht bewaffnete Gruppen bilden werde, um Häuser zu inspizieren und die Menschen zur Teilnahme an den Scheinreferenden zu zwingen.
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„Es ist eine Art Referendum unter den Mündungen von Maschinengewehren“, zitiert das ukrainische Nachrichtenportal TSN einen Abgeordneten aus der Region Cherson. „Stellen Sie sich vor, eine Person kommt mit einem Soldaten zu Ihnen und fragt: ja oder nein? Wenn Sie Nein sagen, werden Sie verhaftet und in den Keller verschleppt.“
Der Leiter der regionalen Militärverwaltung von Cherson, Jaroslaw Januschewitsch, berichtet auf Telegram: „Menschen werden massenhaft von der Krim zur Abstimmung gebracht“, damit mehr Stimmen zusammenkommen. Bewaffnete würden durch die Dörfer fahren und Einwohner zur Abstimmung zwingen. „In Cherson, Tschornobajiwka und anderen Städten brechen sie ein Türen hinunter und zwingen sie zur Wahl.“ Er rät seinen Landsleuten, gegenüber den russischen Besatzer eine Krankheit wie Covid-19 oder Tuberkulose vorzutäuschen, um nicht abstimmen zu müssen.
Viele Einwohner geflüchtet
Viele der Scheinabstimmungen finden offenbar in Wohnhäusern statt, ohne jede Privatsphäre. Nach Angaben des Inlandsgeheimdienstes der Ukraine soll die russische Besatzungsmacht in der Ukraine Kinder im Alter von 13 bis 17 Jahren Wahlzettel ausfüllen lassen, um die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen zu erhöhen und das Ergebnis glaubwürdig erscheinen zu lassen. Eltern und Beschäftigte von Kinderheimen sollen Minderjährige zu den Wahllokalen bringen, warnte der Geheimdienst.
Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität zu Köln sagte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dass Russland sich etwas überlegen müsse, um die Scheinreferenden wenigstens ein kleines bisschen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Außerdem gab er zu bedenken, dass viele Einwohner der Gebiete längst geflüchtet sind und sich gar nicht mehr vor Ort aufhalten. Laut ukrainischem Geheimdienst sollen aus diesem Grund auch jene Bewohner der vier Regionen abstimmen, die nach Russland ausgereist sind und sich gar nicht vor Ort befinden.
Scheinreferenden sollen völkerrechtswidrige Annexion ukrainischer Gebiete legitimieren
Seit Beginn der Scheinreferenden haben die Besatzer Terroraktionen in den besetzten Gebieten verstärkt. Nach Angaben des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte habe Russland 24 Stunden vor Beginn des Scheinreferendums zivile Infrastruktur und Wohngebäude in mehr als 30 Orten zerstört. In Cherson sei die Kontrolle der russischen Militärpolizei verstärkt worden. „Dort wird bei Haushaltskontrollen psychologischer Druck auf die Anwohner durchgeführt“, heißt es. Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe werde versucht, Daten der wahlberechtigten Bevölkerung zu sammeln. In einigen Städten, wie Starobilsk in Luhansk, soll den Menschen zudem verboten worden sein, die Stadt zu verlassen. Kremltreue Medien, darunter auch russische Staatsmedien, haben sich in den vergangenen Tagen laut Geheimdienst darauf vorbereitet, „die aktive Beteiligung der Anwohner an der Abstimmung“ zu filmen.
Der Geheimdienst hat nach eigenen Angaben 1500 Menschen identifiziert, die in Saporischschja das russische Scheinreferendum durchführen. Mehr als 1000 seien russische Kräfte, etwa 390 ukrainische Kollaborateure. Sie müssen mit Strafen rechnen.
Bei der unfreien Abstimmung handelt es sich um ein Scheinreferendum, mit dem Russland die völkerrechtswidrige Annexion ukrainischer Gebiete legitimieren will. International wird das Pseudoreferendum aber nicht anerkannt. Wie bereits bei der annektierten Krim 2014 wird das Ergebnis laut Beobachtern frei erfunden sein und die russischen Besatzer werden anschließend den Beitritt der Gebiete in die Russische Föderation verkünden.
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Abstimmung im Hausflur, weder frei noch geheim.
© Quelle: IMAGO/SNA
Kremlsprecher Dmitri Peskow kündigte an, dass Russland die Gebiete schnell annektieren werde und Angriffe der Ukraine dann als ein Angriff auf russisches Territorium betrachtet werden. Derzeit erobert die Ukraine Teile der besetzten Regionen zurück. Seit Beginn des Kriegs hatte es Russland nie geschafft, die Gebiete vollständig einzunehmen oder gar zu kontrollieren.
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