IG-Metall-Chef Hofmann: „Das Spardiktat bei der Weiterbildung ist nicht nachvollziehbar“
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Jörg Hofmann, erster Vorsitzender der IG Metall.
© Quelle: Daniel Karmann/dpa
Frankfurt am Main. Jörg Hofmann (Jahrgang 1955) steht seit 2015 als erster Vorsitzender an der Spitze der größten Einzelgewerkschaft der Welt. In seiner Amtszeit hat er sich immer wieder für Wiederbelebung der Arbeitszeitpolitik starkgemacht. Das Plädoyer des studierten Diplomökonomen im RND-Interview: „Wir müssen an der Arbeitszeitfrage weiterarbeiten, gerade wegen des Fachkräftemangels.“ So verharrten derzeit meistens Frauen in der Teilzeitfalle und in Minijobs. Wenn nur die Hälfte dieser Arbeitskräfte in eine verkürzte Vollzeit mit vier Tagen gebracht werde, entstehe ein Potenzial von mehreren Hunderttausend Beschäftigten.
Um die Herausforderungen der Transformation in der Wirtschaft zu bewältigen, fordert er zudem, die Angebote zur Weiterbildung auszubauen. Ein Konzept dafür liegt seit Mitte Januar auf den Tisch. Hofmann dringt darauf, es nun umzusetzen: „Wir sind da für vieles offen, aber nicht für eine Vertagung.“ Auf der Sitzung des Koalitionsausschusses am Sonntag soll darüber beraten werden. Hofmann will im Herbst den Posten des ersten Vorsitzenden der IG Metall abgeben.
Herr Hofmann, über Fachkräftemangel wird seit Jahren gesprochen. Was ist aus Ihrer Sicht eigentlich damit genau gemeint?
Ich würde einen Schritt weitergehen: Wir haben in vielen Regionen einen Arbeitskräftemangel. Nicht nur in qualifizierten Berufen der Metall- und Elektroindustrie oder des Handwerks, sondern auch in einfachen Tätigkeiten, etwa in der Logistik.
Wenn das Thema schon länger bekannt ist, warum sind wir in Deutschland in diese akute Not hineingelaufen?
Das fragen wir Politik und Arbeitgeber auch seit Jahren. Keine Prognose ist so sicher wie die über die demografische Entwicklung. Doch weder im Kontext Einwanderung noch bei den Millionen Frauen, die seit Jahren in der Teilzeitfalle sitzen, noch bei den Jahr für Jahr Hunderttausenden Jugendlichen ohne Berufsabschluss auf dem Arbeitsmarkt wurde ausreichend gehandelt. Diese Unterlassung rächt sich heute.
Wer trägt die Schuld?
Die Hauptfrage richtet sich an die Arbeitgeber, gerade beim Thema Ausbildung. Die Zahl der Ausbildungsplätze wurde nach unten gefahren, obwohl klar war, dass wir junge Leute brauchen. Attraktive Arbeitsplätze und Vereinbarkeit für berufstätige Eltern wurden zu oft sträflich vernachlässigt.
Jetzt liegt von der Bundesregierung einiges auf dem Tisch, um den Mangel von Fachkräften zu entschärfen. Ein Weiterbildungspaket mit den Kernpunkten Bildungszeit und Qualifizierungsgeld. Der richtige Weg?
Im Prinzip ja. Der rasche wirtschaftliche Wandel bedeutet, dass innerhalb einer Erwerbsbiografie der Spurwechsel möglich sein muss. Eine zweite grundständige Ausbildung wird für viele Beschäftigte notwendig. Sonst laufen wir in die Falle, dass heute Hochqualifizierte eines Tages in Jobs deutlich unter ihrer Qualifikation abrutschen. Nur hier springt das Gesetz zu kurz. So soll die Bildungszeit auf ein Jahr begrenzt werden. Das reicht nicht für eine zweite Ausbildung.
Und die finanzielle Absicherung?
Geplant sind während der Bildungszeit 60 Prozent des Nettoeinkommens, bei Erwerbstätigen mit Kindern 67 Prozent. Das Geld soll von der Arbeitsagentur kommen. Uns wundert schon sehr, dass in dem Entwurf das Aufstocken dieser Zahlungen über Tarifverträge explizit ausgeschlossen wird. Unsere Haltung war immer eine Aufteilung der Lasten. Die Arbeitgeber sollten zu einer ordentlichen Aufstockung verpflichtet werden. Das verhindert auch befürchtete Mitnahmeeffekte.
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Hubertus Heil: „Die Menschen haben Bock auf anständige Bezahlung“
Bundesarbeitsminister Heil betont im Interview, dass Deutschland eine starke Bundeswehr und einen starken Sozialstaat braucht. Außerdem erklärt der SPD-Politiker, wie er einen massiven Anstieg der Rentenbeiträge verhindern will – und er kanzelt den Arbeitgeberverband für seine Forderung nach mehr Bock auf Arbeit ab.
Wie sieht es beim Qualifizierungsgeld aus, das ausdrücklich dafür gedacht sein soll, Beschäftigte innerhalb ihrer Betriebe für neue Tätigkeiten ebenfalls mit Geld von der Arbeitsagentur zu qualifizieren?
Das Qualifizierungsgeld ist eine äußerst wichtige Ergänzung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente in der Transformation. Es gibt in dem uns vorliegenden Konzept des Arbeitsministeriums zwei Haken: Alles, was durch das Aufstiegs-Bafög bereits förderbar ist, soll nicht über das Qualifizierungsgeld förderbar sein. Dabei handelt es sich aber gerade um zertifizierte und qualifizierte Abschlüsse. Zweitens sehen wir nicht ein, dass die Förderung der Maßnahmen, also Kosten der Durchführung von Qualifikationen, ausgeschlossen sein sollen. Das geht uns nicht weit genug. Aber: Im Moment müssen wir feststellen, dass das ganze Vorhaben infrage gestellt wird.
Warum?
Der Finanzminister hat auf alles, was Geld kostet, einen Deckel draufgesetzt. Deshalb ist der Entwurf des Weiterbildungspakets von Arbeitsminister Hubertus Heil bis heute nicht einmal im Kabinett gelandet. Jetzt steht im Raum, dass nur das Qualifizierungsgeld auf den Weg gebracht werden soll – es ist skandalös, wie hier politische Sonntagsreden über Fachkräftemangel und politisches Handeln auseinanderfallen.
Dabei haben doch auch FDP-Politiker den Fachkräftemangel schon als Problem erkannt.
Man kann es den Beschäftigten nicht vermitteln: Wir haben fast 180 Milliarden Euro im Klima- und Transformationsfonds, und das ist gut so. Damit werden Unternehmen bei der Transformation von Produktionsprozessen und Produkten unterstützt. Wenn es aber um die Transformation der Beschäftigten geht, ihre Qualifikation in eine sichere und zukunftsfähige Berufsperspektive, dann ist plötzlich Meister Sparhans angesagt. Da bricht gesellschaftlich etwas auf: Es ist für die Gesellschaft wie auch für Unternehmen extrem wichtig, dass wir der Transformation der Wirtschaft und den Anforderungen des Klimaschutzes nicht mit Skepsis und Zukunftsangst begegnen.
Was meinen Sie damit?
Wir müssen den Beschäftigten Sicherheit geben, belastbare Brücken bauen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Regierung die Themen Qualifikation und zweite Berufsausbildung unter ein Spardiktat stellt. Zumal die gleiche Regierung darüber jammert, dass es keine Fachkräfte gibt – gerade für die Energie- und Mobilitätswende. Fachkräftemangel wird hier zum Engpass. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente müssen erweitert werden, um etwa aus Kfz‑Mechanikern, die heute im Zulieferbetrieb am Verbrenner schrauben, Heizungsinstallateure zu entwickeln. Stattdessen wird blockiert, hinausgezögert und herrscht Verzagtheit, wo Mut zu massiven Investitionen in die Beschäftigten notwendig wäre.
Sie sind ein erfahrener Verhandler. Wie kann bei der Sitzung des Koalitionsausschusses am Sonntag ein Kompromiss gefunden werden, der auch für Finanzminister Lindner gesichtswahrend ist?
Politik ist keine Tarifverhandlung. Ich bin mir nur sicher: Wir kommen nicht daran vorbei, dass die schwarze Null im Bundeshaushalt neu interpretiert wird: Zukunftsinvestitionen müssen davon ausgenommen werden. Zukunftsinvestitionen sind auch zuallererst Investitionen in Menschen und deren Qualifikation. Hilfsweise könnten Mittel des Klima- und Transformationsfonds für die Transformation der Beschäftigten verwendet werden. Die EU hat gerade hierzu den beihilferechtlichen Rahmen kräftig erweitert. Wir sind da für vieles offen, aber nicht für eine Vertagung.
Wir sind für vieles offen, aber nicht für eine Vertagung.
Zurück zum Weiterbildungspaket: Wie lange braucht es, um einen Beschäftigten bei einem Autozulieferer für die Elektromobilität umzuschulen?
Wir haben gesehen: Wenn Kollegen, die im Bereich Montage und Fertigung gearbeitet haben, für die Batteriezellenproduktion umqualifiziert werden, dann kommt einiges an Lernstoff im Bereich Chemie auf sie zu. Um eine gut qualifizierte Fachkraft zu haben, braucht es anderthalb bis zwei Jahre. Ein Jahr ist zu wenig. Zwei Jahre halten wir für das Minimum, damit ein Spurwechsel gelingt. Zum Glück gibt es beim Qualifizierungsgeld keine zeitliche Begrenzung.
Diese Konzepte werden von Arbeitgebern geradezu wütend zurückgewiesen. Was ist da los?
Mein Hauptvorwurf an die Arbeitgeber: Viele denken noch nicht einmal darüber nach, mit welchen Produkten und Verfahren sie morgen und übermorgen Umsätze machen wollen. Solange es diese Perspektive nicht gibt, wird auch nicht die Frage nach der Qualifikation der Beschäftigten gestellt. Umso wichtiger ist es, die Bildungszeit als individuellen Anspruch einzuführen. Denn sie bietet Beschäftigten die Möglichkeit, aus eigenem Engagement aus einem Job, der wenig Perspektiven bietet, rauszugehen, um sich für ein neues Berufsfeld zu qualifizieren. Wer Fachkräfte halten will, muss sich Innovationen und Investitionen in die Zukunft öffnen. Hier hat sich der Arbeitsmarkt klar gedreht.
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Noch krasser als in der Industrie ist der Fachkräftemangel in vielen Bereichen des Handwerks. Sie raten, die schwache Tarifbindung im Handwerk zu stärken. Zieht das?
Wir sehen, dass immer mehr Arbeitgeber das Label „Hier gilt der Tarifvertrag“ für sich entdecken, um für Beschäftigte attraktiver zu werden. Das ist erfreulich. Die andere Seite: Hat das Handwerk auch die Strukturen für attraktive Arbeitsbedingungen? Das Handwerk muss sich über Arbeitszeiten und über Aufstiegsmöglichkeiten Gedanken machen. Das ist gestaltbar, zumal das Handwerk derzeit stolze Preise durchzusetzen kann.
Aber die Frage ist doch: Wie viel von den hohen Umsätzen wird für bessere Arbeitsbedingungen genutzt?
Genau. Wer Familie hat und Tag für Tag acht bis zehn Stunden auf der Baustelle arbeitet, der kann nicht die Unzulänglichkeiten des Bildungssystems ausbügeln: Spätestens am Nachmittag macht die Kita zu. Das Handwerk muss beim Thema Arbeitszeit und Entgelt was tun, ansonsten laufen die Beschäftigten weg. Die Aufgaben übernehmen dann große Servicegesellschaften, die mit industriellen Standards günstig die Fotovoltaik im Komplettangebot auf das Dach nageln, aber keine Ahnung vom Anschluss zum lokalen Stromversorger haben. Das lokale Handwerk hat Perspektiven, wenn es sich ändert.
Aber kann ein Kleinbetrieb mit zwölf Leuten, wo die Frau des Chefs die Buchhaltung machen muss, tatsächlich smarte Arbeitszeitmodelle entwickeln?
Mehr Kooperation zwischen den Betrieben wäre eine Lösung. Handwerksbetriebe stehen vor der Wahl: wachsen oder weichen. Wachsen kann auch mittels Kooperationen organisiert werden. Dann entstehen Spielräume. Zum Beispiel für Modelle der Viertagewoche für die Beschäftigten. Dass dies geht, zeigt eine ganze Reihe von Praxisbeispielen.
Das hört sich etwas paradox an: Fachkräftemangel und nur noch vier Tage arbeiten? Wie passt das zusammen?
Es gibt viele Menschen, die Bock auf Arbeit haben, aber auf gute Arbeit. Viele Menschen – meistens Frauen – verharren in der Teilzeitfalle und in Minijobs. Wenn wir nur die Hälfte davon in eine verkürzte Vollzeit mit vier Tagen bringen, dann entsteht ein Arbeitskräftepotenzial von mehreren Hunderttausend Beschäftigten. Und wenn man will, dass Beschäftigte nicht aus gesundheitlichen Gründen und trotz materieller Nachteile frühestmöglich in die Rente gezwungen werden, dann ist die Viertagewoche ebenfalls ein wichtiges Instrument: um die Gesundheit zu erhalten, um bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten zu können. Zudem können wir damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch dort stärken, wo Homeoffice nicht möglich ist: in der Produktion, im Handwerk, im Außendienst.
Ihre Amtszeit läuft noch bis Oktober. Ist die Viertagewoche das wichtigste Projekt, das Sie im letzten halben Jahr noch voranbringen wollen?
Ich habe von Beginn an auf eine Revitalisierung gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik gesetzt. Nicht nur als erfolgreiches Mittel der Krisenbewältigung wie Kurzarbeit oder Beschäftigungssicherung. Sondern gerade wegen der Aspekte Qualifizierung, Gesundheit und Vereinbarkeit. Daraus entstand 2020 der Vorschlag der Viertagewoche, die wir 2021 als Option in den Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie verankern konnten. Wir müssen an der Arbeitszeitfrage weiterarbeiten, gerade wegen des Fachkräftemangels. Aber natürlich gibt es daneben die großen Herausforderungen der Transformation weiter zu verfolgen und um die Bedingungen eines fairen Wandels zu kämpfen: der die Beschäftigten mitnimmt und den Industriestandort Deutschland zukunftsfähig macht.