Lockdown-Angst: Veranstaltungswirtschaft schlägt Alarm
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Publikum bei einem Konzert in Hamburg (Archivbild).
© Quelle: Markus Scholz/dpa
Berlin. Es ist ein verzweifelt klingender Hilferuf. „Wir werden alle untergehen“, warnt Kerstin Meisner. Sie ist Mitglied im gerade geschaffenen elfköpfigen Vertreterrat der Veranstaltungswirtschaft, die sich mit dem Hochlaufen der vierten Pandemiewelle ihrem kollektiven Untergang näher sieht als je zuvor.
Die abermaligen Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus versetzen der Branche neue Tiefschläge im Rekordtempo. Binnen fünf Tagen sei eine Stornowelle über sie hereingebrochen, die geplante Umsätze von rund 100 Millionen Euro vernichtet habe, bilanziert Meisner. Acht von zehn Unternehmen der Branche seien betroffen. Gleichzeitig habe die Politik beschlossen, Überbrückungshilfen und Kurzarbeit für die Branche Ende 2021 auslaufen zu lassen.
Vertreterrat warnt vor Pleiten
Bleibt es dabei, stünden Pleiten und Jobverluste bevor, warnt der Vertreterrat der durchaus bedeutenden Branche. Deutschlandweit zählte sie rund 243.000 Unternehmen und rund zwei Millionen Beschäftigte – vor Ausbruch der Pandemie. „40 bis 50 Prozent der Mitarbeiter haben unsere Branche verlassen“, weiß Christian Eichenberger. Auch er ist Mitglied des Vertreterrats und weiß nicht, wie man Personal zurückbekommt. Zu ungewiss seien die Neustartchancen, zu schlecht das Pauschalimage von Veranstaltungen als große Corona-Infektionsherde.
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Die Pandemie und wir
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Die Veranstaltungswirtschaft gilt als sechstgrößte Branche des Landes mit in Normalzeiten gut 80 Milliarden Euro Jahresumsatz. Sie ist eine sehr heterogene Branche und besteht zur Hälfte aus Kleinstunternehmen und Soloselbstständigen. Größere Firmen mit über 1.000 Beschäftigten sind selten. Zu ihr zählen Messe- und Kongressveranstalter, Caterer und Security, spezialisierte PR-Agenturen, Messe- oder Bühnenbaufirmen.
Stornowelle trifft Branche
Die akute Stornowelle trifft die Veranstalter zu einem Zeitpunkt, als gerade eine leichte Erholung begonnen hatte. Die Sommermonate hätten Hoffnung gemacht, sagt Eichenberger. Aber bis Herbst habe sich die Auslastung gerade einmal auf 40 Prozent des Normalniveaus erholt. Jetzt geht es erneut steil nach unten mit der erneuten Absage von Messen und Tagungen über Konzerte und Festivals bis hin zu Betriebsfeiern und Hauptversammlungen. Auf den Kosten dieser Absagen säßen nun die Firmen der Veranstaltungswirtschaft, deren Eigenkapital im Verlauf der Pandemie um im Schnitt 70 bis 90 Prozent abgeschmolzen sei, schildert Eichenberger die Lage.
Im ersten Corona-Jahr 2020 musste die Branche einen Umsatzeinbruch von über drei Vierteln verkraften, hat das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung ermittelt. „2021 wird es wahrscheinlich schlimmer“, schätzt Eichenberger. Denn im Vorjahr hatte man zum Start noch fast drei gute Monate.
Die Veranstaltungswirtschaft stehe hinter der neuerlichen Verschärfung staatlicher Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie, stellt Meisner klar. Der Staat müsse aber auch ihre Not lindern. Es gehe immerhin um gut eine Million Arbeitsplätze, die noch übrig sind. Die neuerlichen Absagen von Veranstaltungen reichten bis in den Februar 2022 hinein. Auch ein Neustart danach sei vor allem mangels Personal keine ausgemachte Sache, stellt Eichenberger klar. Zudem sei die Nachwuchsausbildung in den Betrieben komplett zum Erliegen gekommen.
Größere Veranstaltungen hätten zudem eine Vorlaufzeit von sechs bis zwölf Monaten und sie müssten vorfinanziert werden, betont Eichenberger. Dafür ist aber vielfach kein Geld mehr vorhanden, weil nach 20 Corona-Monaten die Firmenkonten leer und auch persönliche Rücklagen aufgebraucht seien.
„Wir konnten zwei Jahre fast durchgehend nicht mehr arbeiten“, erklärt Meisner. Würde der Staat jetzt nicht erneut Finanzhilfen zur Verfügung stellen, seien die Staatshilfen der vergangenen Monate sinnlos verbrannt, weil dann eine Pleitewelle komme.
Branche fordert anhaltende Staatshilfen
Um das zu verhindern, hat die Branche einen 33 Punkte umfassenden Forderungskatalog im Stile eines Marshallplans formuliert. Er umfasst anhaltende Staatshilfen für Firmen bis sechs Monate über das Auslaufen aller Corona-Beschränkungen hinaus. In der Krise verlorenes oder neues Personal müsse man per Eingliederungshilfe von steuerfreien 1.500 Euro zum Anheuern bewegen.
Handeln müsse jetzt sofort noch die alte Bundesregierung, betonen Meisner und Eichenberger. Denn bis die neue sich formiert und Ansprechpartner für ihre Branche habe, sei es wohl Januar und für viele Firmen schon zu spät. Auch eine Arbeitslosenversicherung für Soloselbstständige müsse die Politik jetzt endlich ermöglichen. „Bitte lassen Sie uns nicht zur vergessenen Branche werden“, fleht Meisner an deren Adresse.