Fahrradfreundliche Städte? VCD-Chefin erklärt, was wir von Utrecht lernen können
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Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD).
© Quelle: Richard Westebbe, Bielefeld
Frankfurt. Frau Haarmann, Kanzler Scholz lädt für Dienstag zum Mobilitätsgipfel. Was halten Sie von der Veranstaltung?
Am Treffen des Bundeskanzlers nehmen mehrheitlich Vertreter der Automobilbranche teil. Dies einen Mobilitätsgipfel zu nennen ist anmaßend – ein Etikettenschwindel. Das ist so, als würde man einen Sportlergipfel einberufen und nur Fußballer einladen. Die Zukunft der Mobilität ist vernetzt und multimodal. Ihr Rückgrat ist der öffentliche Verkehr mit mehr Bus, Bahn, Sharing-Angeboten sowie Rad- und Fußverkehr. Nur mit diesen Branchen kann eine klimaschützende Verkehrswende entwickelt werden, die gleichzeitig viele neue Arbeitsplätze bietet. Hier gibt es massiven Entscheidungs- und Veränderungsbedarf: Bus und Bahn brauchen Priorität und Investitionen, mehr Digitalisierung und schnellere Planung. Dies alles sollte Bundeskanzler Scholz zur Chefsache machen.
Die Verkehrswende in den Städten kommt nicht voran, obwohl eigentlich klar ist, was getan werden muss. Wo klemmt‘s?
Beim Verkehr ist in puncto Klimaschutz praktisch nichts passiert. Wenn Sie etwas erreichen wollen, dann müssen Sie die städtische Mobilität verändern – quasi von Beginn an, wenn Sie das Haus verlassen. Denn drei Viertel aller Wege starten von zu Hause. Viele Stadtverwaltungen wollen das mittlerweile auch. Dass sie häufig nicht so können, wie sie wollen, liegt sehr oft daran, dass die Straßenverkehrsordnung – StVO – den Kommunen nicht die Freiheit gibt, die sie brauchen.
Haben wir in der städtischen Mobilität einen Kipppunkt erreicht? Das Auto, einst ein effizientes Verkehrsmittel, ist nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems?
Ja. Erkenntnishemmnisse in dieser Hinsicht haben wir nur noch bei denjenigen, die unbedingt alles mit dem Auto erledigen wollen. Deshalb sind die Zulassungszahlen nach wie vor hoch. Wir haben knapp 49 Millionen Autos auf den Straßen. Aber gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die Menschen den städtischen Raum nicht mit stehendem Blech füllen wollen. Kinder wollen dort spielen. Platz für Sport, Musik, Cafés – das möchten die Menschen. Die junge Generation tickt sowieso anders. Ihnen sind Handys als neue Form individueller Mobilität wichtiger als Autos.
Es gibt einige Städte, die nun in die Gänge kommen. Etwa Frankfurt mit dem Ausweisen von Fahrradstraßen. Aber warum geht das so langsam?
Wenn Verwaltung und Politik sich hierzu entschlossen haben, laufen häufig Klagen gegen die Einrichtung einer Fahrradstraße. Das verzögert. Die Kommunen können Straßen umwidmen, sofern es kommunale Straßen sind. Dann muss der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin sich ausschließlich mit den Bürgerinnen und Gewerbetreibenden auseinandersetzen. Etwa wenn es darum geht, hierfür Parkplätze abzuschaffen. Aber bei Landes- und Bundesstraßen, die vielfach durch Städte führen, ist das nicht mehr so einfach. Dort sind die Landesstraßenverwaltungen und andere Rechtsfragen zu berücksichtigen.
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© Quelle: Reuters
Haben Bürgermeister Angst vor autofahrenden Bürgern?
Tatsächlich gehen Anwohner gegen das Abschaffen von Parkplätzen vor. Da handelt es sich um das gefühlte Grundrecht des Parkens vor der eigenen Haustür.
Das verträgt sich nicht mit Fahrradstraßen?
Die Einrichtung von Fahrradstraßen ist oft der erste Schritt, den Autoverkehr in einzelnen Straßen zu reduzieren. Der nächste Schritt zur Verkehrsberuhigung wäre, zu verfügen, dass nur noch Anwohner in bestimmte Wohnquartiere mit dem Pkw reinfahren dürfen – was in einigen niederländischen Städten schon umgesetzt wird, zum Beispiel in Utrecht. In Barcelona werden darüber hinaus ganze innerstädtische Areale komplett vom Autoverkehr befreit, sogenannte Superblocks.
Zurück zur Straßenverkehrsordnung: Sabotiert sie den zeitgemäßen Umbau des Verkehrssystems?
Das Leitbild, dass Mobilität den Menschen dienen soll, ist in der StVO nicht verankert. Sie stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts und ist im Kern ein Gefahrenabwehrrecht, in dem Fußgänger und Radfahrer keine Rechte haben, lediglich Pflichten. Zum Beispiel, dass sie auf geradem Weg die Straße zu überqueren haben.
Wir müssen also dringend die StVO ändern?
Ja. Und auch deren Basis, das Straßenverkehrsgesetz (StVG). Die Städte werden vor allem dann behindert, wenn sie die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten reduzieren wollen – zum Beispiel auf Tempo 30, und zwar nicht vor nur einem Altenheim oder einer Schule, sondern großflächiger. Die Bundesgesetzgebung muss geändert werden. Es soll hierzu Anfang des neuen Jahres einen Gesetzentwurf vom Bundesverkehrsministerium geben. Ich glaube: Auch der Verkehrsminister von der FDP wird sich diesen Forderungen der Städte nicht mehr komplett entziehen können. Aber es ist noch nichts entschieden. Die Verringerung des Tempos innerorts ist die Minimalforderung beim Thema städtische Mobilität.
Und nur ein Anfang?
Wir haben die Charta „intelligente Mobilität im Wohnquartier“ aufgesetzt, weil die Kommunen vielfach nicht genau wissen, wo und wie sie am besten anfangen mit der nachhaltigen Mobilität. Es mangelt oft an Personal und praktischen Einstiegshilfen. Die Wohnungsunternehmen vor Ort hatten sich zunächst nicht zuständig gefühlt. Auch ihnen fehlt bei diesem Thema oft das Wissen. Das muss sich ändern, denn – wie gesagt – drei Viertel aller Wege beginnen zu Hause.
Die Verringerung des Tempos innerorts ist die Minimalforderung beim Thema städtische Mobilität.
Kerstin Haarmann,
VCD-Bundeschefin
Wie wird Mobilität intelligent?
Zum Beispiel mit komfortablen Fahrradständern direkt vor dem Haus. Wer das Fahrrad erst aus dem Keller drei Treppen hoch um die Ecke an Mülltonnen vorbeitragen muss, dem vergeht die Lust, das Rad zu nutzen. Deshalb müssen die Leute aus dem Haus gehen und sofort nachhaltig mobil sein können. Auch gut erreichbares Carsharing und ein Busanschluss in der Nähe gehören dazu. Und im Eingangsbereich größerer Wohneinheiten könnte es eine digitale Anzeigetafel geben, die zeigt, wann der nächste Bus fährt.
Das hört sich gut an, ist aber bei genauerem Hinsehen gar nicht so einfach. Carsharing etwa konnte sich trotz vieler Projekte im vergangenen Jahrzehnt nicht wirklich etablieren. Auch weil das Angebot einfach häufig zu dünn ist.
Sie haben recht, für Carsharing muss mehr getan werden. Das Ausweisen von ausreichend Parkplätzen für Carsharing-Fahrzeuge an zentraler Stelle muss leichter werden. Die Kommunen sollten die Kosten für diese Stellplätze bis auf null senken. Auch das Angebot an Fahrzeugen muss stimmen. Dann könnten zum Beispiel Arbeitgeber ihren Mitarbeitern eine Carsharing-Grundgebühr oder ein Nutzungskontingent als zusätzliche Leistung anbieten. Neue Mobilitätsangebote müssen insgesamt noch weiter ausgebaut und ausdifferenziert werden. Etwa die sogenannten Rufbusse, wo Kleinbusse auf Bestellung die Menschen mobil machen, zum Beispiel in der Peripherie von Großstädten, wo der Linienverkehr eingeschränkt ist. Außerdem sollte das klassische Taxigeschäft in diese Konzepte integriert werden.
Welchen Effekt erhoffen Sie sich davon?
Wenn Sie es erst einmal gewohnt sind, sich am Wohnort mit Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen, dann machen Sie auch ihre Fernreisen auf diese Weise. Dann fahren Sie nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug nach Berlin und nehmen – bei geeigneten Strecken – vielleicht auch noch das Fahrrad mit.
Was hat der Nutzer davon, außer einem guten Gewissen?
Mehr Lebensqualität, weniger Zeit, die ich nutzlos hinter dem Steuer verbringe, und finanzielle Vorteile können auch damit verbunden sein. Zum Beispiel mit Mietertickets: Wohnungsunternehmen schließen mit dem örtlichen ÖPNV-Anbieter einen Vertrag. Den Mietern wird ein rabattiertes, günstiges Ticket für Busse und Bahnen angeboten, was die Attraktivität einer Mietwohnung steigert. Da können noch viel mehr Vorteile hinzukommen, durch eine bessere Infrastruktur im öffentlichen Raum: Mehr Bushaltestellen oder ein funktionsfähiges Carsharing. Wir müssen Kommunen mit Wohnungsunternehmen zusammenbringen. Bei vielen dieser Firmen ist jetzt das Interesse da, beim Thema Nachhaltigkeit aktiv zu werden.
Auch mit weniger Parkplätzen für Autos?
Eine unserer grundlegenden Forderungen ist, dass die Wohnungswirtschaft nicht mehr gezwungen ist, so viele Parkplätze pro Wohneinheit nachzuweisen – aufgrund des hohen Stellplatzschlüssels. Das ist kontraproduktiv, weil dadurch Pkw-Verkehr angezogen und das Bauen viel teurer wird. Es gibt Städte, die haben ihren Stellplatzschlüssel deutlich reduziert. Dafür muss es aber entsprechende Regelungen in der jeweiligen Landesbauordnung geben. Daran hapert es häufig noch.
Wenn die Kunden nicht direkt vor der Tür parken können, dann bricht angeblich alles zusammen. Es gibt inzwischen aber genug Beispiele, die das Gegenteil beweisen – etwa Utrecht in den Niederlanden.
Kerstin Haarmann,
VCD-Bundeschefin
Leben ohne Auto: Besteht nicht die Gefahr einer Art Zwangsbeglückung?
Sie dürfen nicht vergessen, dass sie mit nachhaltiger Mobilität – mit dem Verzicht auf den privaten Pkw – Energie und Geld sparen. Viele Menschen wollen das, aber häufig braucht es einen Stupser für den ersten Schritt. Warum etwa gibt es analog zur Energieberatung keine Mobilitätsberatung?
Vielleicht weil das manchmal gar nicht gewünscht wird. Der Einzelhandel etwa kämpft vehement gegen autofreie Innenstädte?
Man hört tatsächlich die Klagen immer noch: Wenn die Kunden nicht direkt vor der Tür parken können, dann bricht angeblich alles zusammen. Es gibt inzwischen aber genug Beispiele, die das Gegenteil beweisen – etwa Utrecht in den Niederlanden. Das Verbannen des Autoverkehrs hat die Umsätze des Einzelhandels gesteigert, weil Fußgänger und Radler viel einfacher und spontaner anhalten und Geschäfte aufsuchen können und weil viele von ihnen regelmäßig an bestimmten Geschäften vorbeikommen. Einzelhändler kann man aber nicht durch Studien überzeugen, die müssen das selbst erleben. Am besten besuchen die Bürgermeisterin, die Bauabteilung und die Einzelhändler einfach gemeinsam die Städte, wo dieser Umbau schon umgesetzt ist.
Bedeutet das dann auch, dass das Parken in Städten teurer werden muss? Wer in Kopenhagen in der Innenstadt mehrere Stunden sein Auto abstellen will, muss dafür schon heute deutlich mehr als 50 Euro einkalkulieren.
Unbedingt. Städtischer Raum ist kostbar und darf nicht durch billiges Parken verramscht werden. Die Kommunen können höhere Parkgebühren beschließen und jetzt auch das Anwohnerparken teurer machen, und das sollten sie auch tun. Das Anwohnerparken war bis vor anderthalb Jahren gesetzlich gedeckelt, das kann man jetzt deutlich erhöhen und auch nach Wagengröße differenzieren, was Tübingen erfolgreich gerichtlich durchgefochten hat.