Stylish statt trostlos: Warum das Wartezimmer beim Arzt mehr Aufmerksamkeit verdient
Der Wartebereich im Maria-Hilf-Krankenhaus Brilon. Ein Beispiel für ein modernes Wartezimmer, in dem Patientinnen und Patienten sich wohlfühlen sollen.
© Quelle: Karin Hessmann/arturimages
Gut gelaunt betritt man diesen Bereich meist nicht. Wer krank oder für eine Routineuntersuchung beim Arzt ist, wird meist nach der Anmeldeprozedur am Empfangstresen ins Wartezimmer geschickt. Dessen Anblick ist selten dazu angetan, die Stimmung zu heben: eine undefinierbare Wandfarbe, abgenutzte Sitzmöbel, und die Kinderecke mit Minitisch und -stühlen hat auch schon mal bessere Zeiten gesehen.
Empfinden manche Patientinnen und Patienten den Arztbesuch als die Hölle, ist die Zeit im Wartebereich eine Art Vorhölle. Laut der „Ärztezeitung“ verbringt rund ein Drittel der Kassenpatientinnen und -patienten dort mehr als eine halbe Stunde vor dem Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt; jede elfte Person wartet sogar zwischen 45 und 60 Minuten auf die Behandlung. Da kommt bei durchschnittlich zehn Arztbesuchen, die jede und jeder Deutsche pro Jahr machen, einiges zusammen – Zeit, die man mit Lesen überbrücken, in der man verstohlen die Mitpatientinnen und -patienten mustern oder einen Blick auf die Kunstdrucke an den Wänden werfen kann. Gut, dass die Qualität der Deko nichts über die der Diagnose aussagt.
Ein Wartezimmer muss keine Lounge sein – aber verdient Aufmerksamkeit
Wie die Wartezimmer in den rund 100.000 Arztpraxen in Deutschland gestaltet sind, liegt größtenteils im Ermessen der Medizinerinnen und Mediziner. Es existieren bauliche Vorschriften, etwa zur Raumgröße und Barrierefreiheit. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) gibt zudem Empfehlungen, doch die beziehen sich hauptsächlich auf die hygienegerechte Austattung. Teppichböden sollten grundsätzlich vermieden werden, heißt es etwa, und zu den Bildern und dekorativen Elementen schreibt die KV Sachsen-Anhalt lakonisch: „Kein Verzicht aus hygienischen Gründen nötig.“
Sicher, ein Wartezimmer bei der Hausärztin oder dem Hausarzt muss nicht unbedingt Loungecharakter haben, und nicht alle Wartebereiche müssen so stylish aussehen wie jene, die in sozialen Medien präsentiert werden. Aber etwas mehr Aufmerksamkeit dürften Ärzte und Ärztinnen der Gestaltung dieses Bereichs durchaus schenken. „Es wirkt dort oft altbacken, weil Bestand unreflektiert übernommen oder auch nach Jahren nichts an den Zeitgeist angepasst wird“, sagt die Kölner Innenarchitektin Sylvia Leydecker, deren Büro 100&Interior zahlreiche Projekte im Gesundheitsbereich umsetzt. Oft fehle es Ärzten und Ärztinnen aber auch an Mut, sie suchten Sicherheit – „durch langweilige und zumeist konservative Standards, denen es an Inspiration fehlt“.
Innenarchitektin: Wartezimmer brauchen „ein stimmiges gestalterisches Konzept“
Leydeckers Einschätzung nach erhält der Wartebereich oft nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient: „Er wird auf bloße Stühle reduziert, es fehlt ein Sinn für die Ästhetik und auch Funktionalität, die eine Wertschätzung den Patienten und Patientinnen gegenüber formuliert und kommuniziert“, sagt die Innenarchitektin, Autorin des Fachbuchs „Das Patientenzimmer der Zukunft: Innenarchitektur für Heilung und Pflege“. „Die Atmosphäre ist das Wichtigste, sie muss zur Praxis passen, sodass die Wartenden sich dort wohlfühlen“, meint die ehemalige Vizepräsidentin im Bund Deutscher Innenarchitekten (bdia).
Sitzgelegenheiten sollten den nötigen Komfort bieten wie Armlehnen für ältere Menschen. Angenehmes Licht, etwa eine Kombination aus Tages- und Kunstlicht, sei zentral – „was gar nicht geht, ist Flutlicht wie im Fußballstadion“. Und: „Wichtig ist auf jeden Fall, dass es sich um ein stimmiges gestalterisches Konzept handelt.“
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Das Wartezimmer einer kardiologischen Beispiel. Wichtig bei der Einrichtung eines Wartebereichs ist laut Expertinnen und Experten, dass sich Patientinnen und Patienten wohlfühlen.
© Quelle: Joachim Grothus
Dafür, Wartezimmern mehr gestalterische Aufmerksamkeit zu geben, plädiert der Stuttgarter Innenarchitekt Rudolf Schricker bereits seit 20 Jahren. Für den Design-Dozenten an der Hochschule Coburg ist maßgeblich: „Ein Wartezimmer sollte nicht wie eine Schuhschachtel wirken, an den Seiten aufgereihte Stühle sollte man unbedingt vermeiden.“ Der Schuhschachtelcharakter spiegelt laut Schricker eine „herablassende Gestaltungsphilosophie gegenüber den Wartenden“ wider. Er empfiehlt, den Raum in verschiedene Zonen aufzuteilen und Kojen zu schaffen, in denen sich der Patient oder die Patientin wohl- und geschützt fühlt. Denkbar seien kleine Sitz- oder Sofaecken und eine Lichtgestaltung, die einzelne Bereiche des Raums akzentuiere und so voneinander abgrenze. „Warten erzeugt Stress“, sagt Schricker – und der lasse sich durch eine gute Atmosphäre mindern.
Corona kann die Wartezeit für Patientinnen und Patienten langfristig verkürzen
Stress im Wartezimmer? Manfred Pilgramm findet diese Einschätzung übertrieben. In der Gemeinschaftspraxis des Detmolder HNO-Arztes bemühe man sich, „dass der Patient nicht länger als zehn Minuten an einem Ort wartet“, sagt der Mediziner, der an der TH Ostwestfalen-Lippe in Lemgo Wohnmedizin lehrt. Die Disziplin untersucht, wie das Wohnumfeld die seelische und körperliche Gesundheit beeinflusst. Pilgramm kann sich jedoch vorstellen, dass die Räume sich durch die Corona-Pandemie verändern werden – etwa durch permanent größere Abstände zwischen Sitzgelegenheiten, gute Konzepte zur Frischluftversorgung und insgesamt möglichst kurze Wartezeiten.
„Corona wird zu einem besseren Wartezeitmanagement führen“, sagt auch Schricker. Doch er ist davon überzeugt, dass die Pandemie auch das Nachdenken über eine menschenfreundlichere Gestaltung forciert. Die Wartebereiche vieler Praxen seien nicht mehr zeitgemäß, viele seien regelrechte „Unorte“. Zudem sei eine moderne Infrastruktur nötig: Patientinnen und Patienten müssten die Möglichkeit haben, ihre Smartphones zu nutzen. Ein atmosphärisch stimmiger Wartebereich könne so „Unsicherheit in Sicherheit verwandeln“.
Davon, meint Schricker, profitierten letztlich auch Ärztinnen und Ärzte sowie Beschäftigte in den Praxen. Sylvia Leydecker sieht das genauso: „Wer sich bereits im Wartebereich wohlfühlt, ist positiv gestimmt und entspannter, was die anstehende Behandlung und Untersuchung betrifft. Das kommt dem Arbeitsprozess und allen Beteiligten zugute. Denn so beginnt das nötige Healing Environment, ein Umfeld, das sich positiv auf die Gesundheit auswirkt, bereits beim Warten.“