Allianz Ukrainischer Organisationen: „Keine Entscheidung über unsere Köpfe hinweg“

Berlin. Oleksandra Bienert wurde in der ukrainischen Stadt Chernivtsi an der Grenze zu Rumänien und Moldau geboren und wuchs dort auf. Die studierte Historikerin und Menschenrechtsaktivistin lebt seit 2005 in Berlin und ist Vorsitzende der Allianz Ukrainischer Organisationen, des Dachverbandes ukrainischer Interessengruppen in Deutschland.
Frau Bienert, US-Präsident Donald Trump will mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über Frieden in der Ukraine verhandeln. Erste Gespräche haben begonnen. Wie finden Sie das?
In dem Telefonat mit Trump hat Putin behauptet, er würde Frieden wollen. Daraufhin hat die russische Armee in der Nacht zum Freitag das stillgelegte Kernkraftwerk Tschernobyl angegriffen und die Schutzhülle über dem 1986 explodiertem Atomreaktor zerstört. Das ist äußerst gefährlich für ganz Europa. In der Nacht zum Sonntag wurde zudem erneut die ukrainische Stadt Mykolayiv bombardiert. Durch die Zerstörung des Wärmekraftwerks blieben mindestens 46.000 Menschen ohne Wärme- und Stromversorgung. Das sind so viele Menschen, wie zum Beispiel in der sächsischen Stadt Bautzen leben. In der Nacht zum Montag gab es ebenfalls Bombardierungen, so dass in der gesamten Ukraine Havarie-Pläne zur Stromabschaltung aktiviert werden mussten.
Was wollen Sie damit sagen?
Ich will damit sagen, dass so der russische „Frieden“ aussieht. Niemand sollte sich da über die russische Führung täuschen.
Was schwebt Putin statt Frieden vor?
Was Russland will, ist nicht Frieden, sondern eine Okkupation der gesamten Ukraine. Doch am Ende geht es der russischen Führung um viel mehr. Denn spätestens seit dem vorigen Jahr ist bekannt, dass Russland mehr Waffen und Munition produziert, als es im Krieg gegen die Ukraine eigentlich braucht. Im russischen Fernsehen wird offen mit Angriffen auf die Staaten des Baltikums gedroht. Die gesamteuropäische Sicherheit steht also auf dem Spiel. Der Frieden ist in ganz Europa gefährdet. Und es wäre sehr hilfreich, wenn die westeuropäischen Staaten das ernst nehmen und danach handeln.
Was sollten die Europäer konkret tun?
Sie sollten beachten, was Trump sagt: Dass Europa seine Sicherheit selbst gewährleisten muss. Es sollte also möglichst schnell eine wirksame Verteidigung aufbauen, die Ukraine mit allen möglichen militärischen Mitteln unterstützen – und ihr den Beitritt zur EU und zur Nato ermöglichen.
Ist das alles?
Die Europäer sollen auf einen gerechten und langfristigen Frieden in der Ukraine hinwirken. Seit 2014 hat Russland 20 Prozent des ukrainischen Territoriums okkupiert. Dort leben zirka sechs Millionen Ukrainer, die Verfolgungen und andere Menschenrechtsverletzungen durch die russische Okkupationsmacht erleben. Ein gerechter Frieden heißt für sie: Die von Russland seit 2014 okkupierten Gebiete müssen befreit werden, das Leid der Menschen muss aufhören. Die russischen Kriegsverbrechen müssen aufgearbeitet und bestraft werden. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Aber ich möchte, dass wir es alle hören: Die Okkupation bedeutet für Menschen in der Ukraine keinen Frieden. Auf dem Weg zu einem langfristigen und gerechten Frieden in der Ukraine brauchen sie wirksame Sicherheitsgarantien. Ohne diese Sicherheitsgarantien wird der „Frieden“ nur eine Pause vor einem größeren russischen Krieg in Europa sein.
Welche Sicherheitsgarantien stellen Sie sich vor? Sollten die Europäer Friedenstruppen schicken?
Ja, es wäre wichtig, eine europäische Militärpräsenz in der Ukraine zu haben, aber nicht nur. Die Ukraine muss ein Teil der Nato und der EU werden. Die anderen Europäer sollten sie dabei aktiv unterstützen. Außerdem brauchen wir in der Ukraine mehr Waffen für unsere Verteidigung.
Und welche Rolle sollte Deutschland dabei spielen?
Deutschland sollte endlich die Lieferung der „Taurus“-Marschflugkörper freigeben, aktiv an der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur mitarbeiten sowie alles in seiner Macht Stehende tun, um der Ukraine bei ihrer Verteidigung zu helfen. Jedenfalls sollte Deutschland zusammen mit seinen europäischen Partnern darauf hinwirken, dass bei den Friedensverhandlungen nichts ohne die Ukraine entschieden wird. Über den Frieden in der Ukraine darf nicht über ukrainische Köpfe hinweg verhandelt werden! Genauso wie die europäische Sicherheit nicht ohne Europa erreicht werden kann. Es ist eine Frage der Achtung der Souveränität, dass über das Schicksal eines Landes nicht ohne dessen Mitbestimmung entschieden wird. Auch wenn sich Trump und Putin wie Herrscher aus dem 19. Jahrhundert aufführen: Sie können die Zeit nicht zurückdrehen.
Sie haben also noch Hoffnung?
Ja. Die Ukraine hat 1991 zum wiederholten Mal ihre Unabhängigkeit erlangt und wird diese Unabhängigkeit insbesondere jetzt, nach der Erfahrung der Verteidigung gegen die größte Bedrohung für ihre Freiheit, nicht mehr hergeben. Die Ukrainer werden nicht aufgeben. Es ist deshalb für ganz Europa an der Zeit, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und die Souveränität der Ukraine und die europäische Friedensordnung entschlossen zu verteidigen.



